Verkehrssicherungspflicht: Erkennbare Unebenheiten im Außenbereich der Terrasse einer Gaststätte

Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat jetzt bestätigt, dass der Besucher einer im Außenbereich einer Gaststätte liegenden Terrasse, deren Belag einen rustikalen, mediterranen Eindruck vermittelt, nicht mit einer vollständig ebenen Fläche rechnen kann. Der Gastwirt sei nicht verpflichtet, einen gänzlich gefahrfreien Zustand der Terrasse herzustellen. Gäste müssten ihren Gang den erkennbaren Bedingungen der Örtlichkeiten anpassen.

Sturz beim Gaststättenbesuch

Der Kläger besuchte am frühen Abend im Sommer 2021 an einem sonnigen und hellen Tag mit seiner Lebensgefährtin die Gaststätte des Beklagten. Diese verfügt über eine Terrasse im Außenbereich, die mit Natursteinen im Polygonalverfahren belegt ist. In den Zwischenräumen der Steine befindet sich Beton. Der Steinbelag weist Unebenheiten und Fugen auf.

Nachdem der Kläger seine Bestellung aufgegeben und die Toilette aufgesucht hatte, stürzte er auf dem Rückweg von der Toilette zu seinem Tisch und verletzte sich. Er nimmt den Beklagten auf Schadenersatz und Schmerzensgeld in Anspruch und behauptet, sich beim Sturz u.a. sechs Zähne ausgeschlagen zu haben.

Klage ohne Erfolg

Das Landgericht (LG) hatte die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung hatte auch vor dem OLG keinen Erfolg. Der Kläger könne sich nicht auf Schadenersatzansprüche berufen, bestätigte das OLG. Es sei bereits nicht konkret vorgetragen, aus welchen Gründen der Kläger gefallen sei. Die vom Kläger betonte grundsätzlich Fehleranfälligkeit des menschlichen Ganges, der seinen Angaben nach zu den unsichersten Fortbewegungsvorgängen unter Lebewesen gehöre, falle nicht dem Beklagten zur Last. Der Kläger habe auch keine konkreten Angaben zur Ursache des Sturzes gemacht. Insbesondere habe er weder die konkrete Örtlichkeit des Unfalls noch die Ausgestaltung des dort befindlichen Bodenbelags dargelegt.

Gäste müssen sich den örtlichen Verhältnissen anpassen

Der Beklagte habe grundsätzlich nur die Vorkehrungen treffen zu müssen, die nach den berechtigten Sicherheitserwartungen der Besucher zur Abwehr von Gefahren erforderlich gewesen seien. Diesen Anforderungen habe der Beklagte hier genügt. Er sei nicht verpflichtet gewesen, „einen schlechthin gefahrenfreien Zustand der Terrassenfläche herzustellen“, sondern habe nur solchen Gefahren entgegenwirken müssen, auf die sich der Benutzer nicht einzustellen vermag. Dabei könne grundsätzlich von den Gästen verlangt werden, dass sie sich den gegebenen Verhältnissen anpassen und die Verkehrsfläche so hinnehmen, wie sie sich ihnen erkennbar darbiete. Das Erscheinungsbild der Terrasse habe hier den Nutzern unmittelbar verdeutlicht, dass sie beim Begehen der Fläche nicht auf ein sämtliche Unebenheiten nivellierendes Geländes stoßen. Der Gang sei damit den Örtlichkeiten anzupassen gewesen.

Soweit ein Gastwirt zwar auch damit rechnen müsse, dass seine Gäste wegen des Genusses von alkoholischen Getränken oder sonstiger Umstände in ihrer Gehsicherheit beeinträchtigt sein könnten, sei weder dargetan, dass der Belag bei verminderter Aufmerksamkeit kein gefahrloses Begehen ermöglichte, noch, dass der Kläger in seiner Gefahrenkognition vermindert gewesen sei.

Quelle: OLG Frankfurt am Main, Hinweisbeschluss vom 6.7.2023 und Beschluss vom 18.7.2023, 11 U 33/23, PM 48/23

Fehlender Informationsaustausch: Guthaben war schon ausbezahlt: Trotz Sparbuch kein Geld

“Wenn die linke Hand nicht weiß, was die rechte tut“: Eine Bankkundin kann von ihrem Geldinstitut trotz Vorlage eines Sparbuchs keine Auszahlung einer Spareinlage von 70.100 Euro verlangen, wenn zuvor der Ehemann das Guthaben telefonisch auf Festgeldkonten umgeleitet hat. Das hat das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe entschieden.

Das war geschehen

Im Jahr 1992 hatte die Klägerin bei der beklagten Bank ein Sparkonto eröffnet. Als letzte Eintragung in ihrem Sparbuch ist am 21.3.1997 eine Zinsgutschrift von 2.639,72 DM zum 30.12.1996, eine Bareinzahlung von 33.193,41 DM sowie ein Guthaben von 100.000 DM ausgewiesen. Die Klägerin hatte im Januar 2020 den Sparvertrag gekündigt, der Bank das nicht entwertete Sparbuch vorgelegt und die Auszahlung von 70.100 EUR verlangt. Die beklagte Bank hatte dagegen geltend gemacht, sie habe das Sparbuch am 16.4.1998 auf telefonische Weisung des dazu bevollmächtigten Ehemanns der Klägerin aufgelöst, das damalige Guthaben samt aufgelaufener Zinsen auf dem ebenfalls bei ihr geführten Girokonto der Klägerin als Bareinzahlung verbucht und den Betrag anschließend für die Klägerin und ihren Ehemann jeweils hälftig als Festgeld angelegt.

Das Landgericht (LG) wies die Klage nach Vernehmung der damals tätigen Bankmitarbeiter ab, weil es sich davon überzeugt hatte, dass das Guthaben am 16.4.1998 ausgezahlt und damit der Anspruch der Klägerin aus dem Sparvertrag erfüllt wurde.

Kreditinstitut hat die Beweislast

Die gegen das Urteil des LG erhobene Berufung der Klägerin hatte vor dem OLG keinen Erfolg. Eine Bank darf zwar nicht schon deshalb die Auszahlung des in einem Sparbuch dokumentierten Guthabens verweigern, weil lange Zeit keine Eintragungen in dem Sparbuch vorgenommen wurden und die handelsrechtlichen Aufbewahrungspflichten abgelaufen sind. Vielmehr muss das Kreditinstitut auch in solchen Fällen beweisen, dass die Auszahlung des Sparbetrags bereits erfolgt ist. Die Unrichtigkeit eines Sparbuchs kann die Bank dabei nicht allein mit ihren internen Unterlagen nachweisen. Kommen jedoch weitere Umstände hinzu, kann dies zum Beweis genügen.

Sparbuchbetrag wurde nachweislich ausgezahlt

Dazu gehört im jetzt entschiedenen Fall insbesondere der Eingang eines Betrags auf einem anderen Konto der Berechtigten, der exakt der auf dem Sparkonto einschließlich Zinsen vorhandenen Sparsumme entspricht. Die von der Klägerin geäußerte Vermutung, diese auf ihrem Konto verbuchte Bareinzahlung vom 16.4.1998 stamme aus gesammelten Bareinnahmen des damals von den Eheleuten betriebenen Obsthandels, hat nicht zu Zweifeln des OLG an den von der Bank zu den Buchungsvorgängen vorgelegten Unterlagen geführt. Außerdem haben Zeugen, nämlich die damaligen Bankmitarbeiter, die Richtigkeit der bankinternen Dokumente bestätigt. Danach hatte der von der Klägerin bevollmächtigte Ehemann telefonisch die Auflösung des Sparbuchs, die Auszahlung auf das Girokonto und die anschließende Anlage als Festgeld beauftragt. Eine erneute Auszahlung des Geldes kann nicht verlangt werden.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Zwar hat das OLG die Revision nicht zugelassen. Gegen diese Entscheidung hat die Klägerin jedoch Nichtzulassungsbeschwerde zum Bundesgerichtshof (BGH) erhoben.

Quelle: OLG Karlsruhe, Urteil vom 20.12.2022, 17 U 151/21, PM 4/23

Vertragsklausel: Makler können Reservierungsgebühren in Allgemeinen Geschäftsbedingungen nicht wirksam vereinbaren

Der Bundesgerichtshof (BGH) hat entschieden: Die in Allgemeinen Geschäftsbedingungen (AGB) vereinbarte Pflicht eines Maklerkunden, eine Reservierungsgebühr zu zahlen, ist unwirksam.

Makler verlangte Reservierungsgebühr

Die Kläger beabsichtigten den Kauf eines von der Beklagten als Immobilienmaklerin nachgewiesenen Grundstücks mit Einfamilienhaus. Die Parteien schlossen einen Maklervertrag und im Nachgang dazu einen Reservierungsvertrag, mit dem sich die Beklagte verpflichtete, das Grundstück gegen Zahlung einer Reservierungsgebühr bis zu einem festgelegten Datum exklusiv für die Kläger vorzuhalten. Die Kläger nahmen vom Kauf Abstand und verlangen von der Beklagten die Rückzahlung der Reservierungsgebühr.

Das Amtsgericht (AG) hatte die Klage abgewiesen. Das Landgericht (LG) hatte die Berufung der Kläger zurückgewiesen. Der Reservierungsvertrag sei wirksam. Er stelle eine eigenständige Vereinbarung mit nicht kontrollfähigen Hauptleistungspflichten dar.

Bundesgerichtshof gab Maklerkunden Recht

Der BGH hat die Beklagte auf die Revision der Kläger verurteilt, die Reservierungsgebühr zurückzuzahlen. Der Reservierungsvertrag unterliegt der AGB-rechtlichen Inhaltskontrolle, weil es sich dabei nach dem Inhalt der getroffenen Abreden nicht um eine eigenständige Vereinbarung, sondern um eine den Maklervertrag ergänzende Regelung handelt. Dass der Reservierungsvertrag in Form eines gesonderten Vertragsdokuments geschlossen wurde und später als der Maklervertrag zustande kam, steht dem nicht entgegen.

Der Reservierungsvertrag benachteiligt die Maklerkunden unangemessen und ist daher unwirksam, weil die Rückzahlung der Reservierungsgebühr ausnahmslos ausgeschlossen ist und sich aus dem Reservierungsvertrag weder für die Kunden nennenswerte Vorteile ergeben noch seitens des Immobilienmaklers eine geldwerte Gegenleistung zu erbringen ist. Auch kommt der Reservierungsvertrag der Vereinbarung einer erfolgsunabhängigen Provision zugunsten des Maklers gleich. Das widerspricht dem Leitbild der gesetzlichen Regelung des Maklervertrags, wonach eine Provision nur geschuldet ist, wenn die Maklertätigkeit zum Erfolg geführt hat.

Quelle: BGH, Urteil vom 20.4.2023, I ZR 113/22, PM 70/23

Solaranlage: Verkäufer muss nicht ohne Weiteres darüber aufklären, dass keine Notstromfunktion vorhanden ist

Der Verkäufer einer Photovoltaikanlage muss den Käufer nicht ohne Weiteres darüber aufklären, dass die verkaufte Anlage nur Strom liefert, wenn auch das öffentliche Netz funktioniert. Dies hat das Landgericht (LG) Frankenthal klargestellt. Es hat daher der Kaufpreisklage der Firma gegen den Besteller einer Solaranlage vollumfänglich stattgegeben.

Bei Stromausfall läuft Anlage nicht

Ein Ehepaar wollte vom öffentlichen Stromnetz unabhängig sein und ließ sich eine Photovoltaikanlage auf das Dach des Wohnhauses montieren. Damit die Anlage funktioniert, muss jedoch Strom aus dem öffentlichen Netz bereitstehen: Bei Stromausfall schaltet sich die PV-Anlage automatisch ab. Einheiten, die über eine sog. „Notstrom-“ oder „Inselfunktion“ verfügen, sind erheblich teurer als das bestellte und montierte System.

Umbau möglich, aber teuer

Das Ehepaar war der Ansicht, auf diesen Umstand hätte der Anbieter der Anlage sie hinweisen müssen. Dann hätten sie für 5.000 Euro Aufpreis ein anderes, notstromfähiges System bestellt. Jetzt bestehe nur noch die Möglichkeit, die gelieferte Anlage zu nahezu dem dreifachen des ursprünglichen Aufpreises für diese Funktion umzurüsten. Diese Mehrkosten seien vom Verkäufer zu tragen, weswegen das Ehepaar in dieser Höhe die Zahlung des Kaufpreises verweigerte.

Dem ist das LG nicht gefolgt und hat das Ehepaar verurteilt, den vollen Kaufpreis zu zahlen. Der Verkäufer einer Photovoltaikanlage müsse nicht von sich aus darüber aufklären, dass die Anlage nicht über eine Sonderausstattung verfüge, wie eine Notstromfunktion. Die Aufklärungs- und Beratungspflichten dürften nicht überspannt werden. Dass die Eheleute bei den Vertragsverhandlungen klargemacht hätten, dass es ihnen auf die Notstromfunktion ankomme, haben sie nach Ansicht des LG nicht beweisen können. Etwaige mögliche Energieengpässe könnten zwar zu einer anderen Betrachtung führen. Die seien im Kaufzeitpunkt aber noch kein allgemeines Thema gewesen.

Das Urteil ist rechtskräftig; eine zunächst eingelegte Berufung zum Oberlandesgericht (OLG) Zweibrücken hat das Ehepaar zurückgenommen.

Quelle: LG Frankenthal (Pfalz), Urteil vom 15.8.2022, 6 O 79/22, PM vom 28.2.2023

Wegeunfall: Schüler ist unfallversichert, obwohl er „Bahnsurfen“ macht

Ein Schüler ist in der Schülerunfallversicherung versichert, auch wenn er beim sog. Bahnsurfen auf dem Heimweg von der Schule einen Stromschlag erleidet. Es handelt sich um eine „alterstypische Selbstüberschätzung“, so das Bundessozialgericht (BSG).

Das war geschehen

Der damals knapp 16jährige Kläger war Gymnasiast und bestieg nach Schulende den Regionalexpress, um nach Hause zu fahren. Während der Fahrt öffnete er die verschlossene Durchgangstür des letzten Waggons mit einem mitgeführten Vierkantschlüssel und stieg auf die dahinterliegende, den Zug schiebende Lok. Auf dem Dach erlitt er einen Starkstromschlag aus der Oberleitung und stürzte brennend von der Lok. Er überlebte schwer verletzt und zog sich unter anderem hochgradige Verbrennungen zu.

Wegeunfall

Das BSG hat einen Wegeunfall festgestellt und damit anders als die Vorinstanz Versicherungsschutz des Klägers in der Schülerunfallversicherung bestätigt. Schüler sind bei spielerischen Betätigungen im Rahmen schülergruppendynamischer Prozesse unfallversichert.

Schüler wollte „cool“ sein

Auch im Fall des Klägers ging es darum, im befreundeten Schülerkreis „cool“ zu sein. Die von ihm selbstgeschaffene Gefahr schließt den Unfallversicherungsschutz nicht aus. Angesichts wiederholt erfolgreicher Surfaktionen steht vielmehr fest, dass die dabei erworbene Sorglosigkeit zu einer massiven alterstypischen Selbstüberschätzung führte.

Quelle: BSG, Urteil vom 30.3.2023, B 2 U 3/21 R, PM 12/23

BAföG: Semesterleistungen nicht erbracht? Ausbildungsförderung kann es trotzdem geben!

Studierende, die den für weitere Leistungen nach dem BAföG über das vierte Fachsemester hinaus erforderlichen Nachweis über den üblichen Leistungsstand nicht erbringen, können ausnahmsweise dennoch Anspruch auf Ausbildungsförderung haben. Dann muss aber das Nichtbestehen von Leistungsanforderungen erstmals zu einer aus studienorganisatorischen Gründen zwingenden Wiederholung von Semestern führen. Dabei kommt es auf die Anzahl der nicht erbrachten Leistungsnachweise nicht an, die Ursache für die Verlängerung des Studiums sind. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden.

Leistungsnachweise nicht erbracht

Die Klägerin ist Studentin der Pharmazie. Nachdem sie den erforderlichen Nachweis über die üblichen Studienleistungen („Scheine“) bis zum Abschluss des vierten Fachsemesters nicht vorlegen konnte, beantragte sie beim beklagten Studierendenwerk vergeblich, die Förderung fortzusetzen. Die von der Klägerin daraufhin erhobene Klage auf Weiterförderung im fünften und sechsten Fachsemester hat das Verwaltungsgericht (VG) abgewiesen. Grund: Eine Verlängerung der Förderungshöchstdauer komme nur bei einem einmaligen Leistungsversagen in Betracht. Die Klägerin habe jedoch in den ersten beiden Semestern zwei Leistungsnachweise nicht erbracht, die für die Teilnahme an Veranstaltungen in den beiden Folgesemestern erforderlich waren und sie daran hinderten, weitere Leistungsnachweise zu erbringen.

Grundsatz und Ausnahme

Vor dem BVerwG hatte die Klägerin jedoch Erfolg. Zwar ist die Weitergewährung von Ausbildungsförderung ausgeschlossen, wenn Studierende eine Zwischenprüfung nicht bestehen oder wie hier die bis zum vierten Fachsemester üblichen Leistungen nicht erbringen. Ausnahmsweise ist aber die Frist zur Vorlage der Leistungsnachweise zu verlängern und weiter Ausbildungsförderung zu gewähren, wenn voraussichtlich eine Überschreitung der Förderungshöchstdauer zu bewilligen sein wird. Dies ist nach dem Gesetz anzunehmen, wenn ein schwerwiegender Grund für die Überschreitung vorliegt. Ein solcher Grund ist schon von der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG insbesondere angenommen worden, wenn Studierende erstmals eine Zwischenprüfung nicht bestehen und deshalb an der planmäßigen Fortsetzung des Studiums gehindert sind. Sie sollen im Fall des Nichtbestehens der bis zum vierten Semester erforderlichen Leistungsanforderungen, das zu einer erstmaligen Verzögerung des Studiums führt, eine zweite Chance erhalten, den Leistungsrückstand in angemessener Zeit durch Ablegung der entsprechenden Prüfungen aufzuholen. Diese gesetzliche Wertung greift auch, wenn die Nichterbringung sonstiger Leistungsnachweise dazu führt, dass eine planmäßige Fortsetzung des Studiums in einem höheren Semester nicht möglich ist, weil zunächst nicht bestandene Studienleistungen wiederholt werden müssen.

Das ist entscheidend

Dabei kommt es nicht darauf an, ob nur ein Leistungsversagen für die Verzögerung ursächlich ist oder ob mehrere nicht bestandene Leistungsnachweise im Zusammenwirken diese Folge auslösen. Entscheidend ist allein, ob es Studierenden aus studienorganisatorischen Gründen erstmalig objektiv unmöglich ist, die fehlenden Leistungen ohne eine sich auf die Förderungshöchstdauer auswirkende Verzögerung des Studiums zu erbringen. Dies ist hier der Fall gewesen, was zu einer Verlängerung des Grundstudiums der Klägerin um zwei Semester führt, für die Ausbildungsförderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren war.

Quelle: BVerwG, Urteil vom 3.3.2023, 5 C 6.21, PM 17/23

Unterrichtsausfall: Kein Anspruch auf lehrplanmäßigen Unterricht bei Lehrermangel

Das Thüringer Oberverwaltungsgerichts (OVG) hat in einem wegen Unterrichtsausfall angestrengten Eilrechtsstreit die von neun Schülern und Schülerinnen erhobenen Beschwerden zurückgewiesen. Sein Fazit: Herrscht Lehrermangel, genügt Unterricht im Rahmen des Möglichen.

Schüler befürchten Nachteile

Die Schüler und Schülerinnen besuchen die 8. Klasse des französisch-bilingualen Zweigs eines staatlichen Gymnasiums. Durch den Ausfall von Schulstunden wegen Lehrermangel sehen sie sich in ihrem durch das Grundgesetz und die Thüringer Verfassung geschützten Recht auf Bildung verletzt. Insbesondere befürchten sie, dass sie wegen des Stundenausfalls in den bilingual unterrichteten Fächern die Anforderungen für den Erwerb des Europäischen Exzellenzlabels „CertiLingua“ verfehlen werden und wollen Nachteile für die besondere Leistungsfeststellung in der Klassenstufe 10 und die spätere Abiturprüfung abwenden.

Anspruch nicht glaubhaft gemacht

Im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens begehrten sie deshalb, den Freistaat Thüringen zu verpflichten, den Unterricht nach dem ungekürzten Stundenplan (sog. Rahmenstundentafel) abzusichern. Das zunächst angerufene Verwaltungsgericht (VG) hat den Eilantrag abgelehnt. Die dagegen erhobene Beschwerde hat das OVG nun zurückgewiesen. Die Antragsteller und Antragstellerinnen hätten keinen Anspruch auf Unterricht entsprechend dem ungekürzten Stundenplan der 8. Klasse glaubhaft gemacht.

Kein Anspruch auf bestimmte Gestaltung des Unterrichts

Das Zertifikat CertiLingua gehöre nicht zum Bildungsgang des Gymnasiums im bilingualen Zweig und werde ausschließlich im außerschulischen Bereich vergeben. Der bilinguale Zweig stelle demgegenüber in Thüringen ein rechtlich anerkanntes Schulprofil mit dem Ziel der Begabtenförderung dar. Aber auch daraus folge kein Anspruch auf Erteilung unverkürzten Unterrichts. Der Staat komme seiner Pflicht aus dem verfassungsrechtlich abgesicherten Recht auf Bildung nach, wenn er das Schulwesen so plane und organisiere, dass allen jungen Bürgern nach ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten offen stehen. Bei der Festlegung der Schulorganisation, der Erziehungsprinzipien und Unterrichtsgegenstände habe der Staat eine weitgehende Gestaltungsfreiheit, die auch im Hinblick auf die personelle und sächliche Ausstattung immer unter dem Vorbehalt des Möglichen stehe und der elterlichen Bestimmung entzogen sei. Eltern und Schüler könnten daher keine bestimmte, ihren Wünschen entsprechende Gestaltung des Schulunterrichts verlangen. Anlass zu gerichtlichem Einschreiten sei erst gegeben, wenn es die Schulverwaltung in Fällen von Unterrichtsausfall unterlasse, zeitnah die erforderlichen Maßnahmen im Rahmen des Möglichen zu ergreifen.

Aufgrund des Vortrags des Freistaats hatte das OVG keinen Zweifel, dass die Schulverwaltung alle Anstrengungen unternehme, um den in den Rahmenstundentafeln vorgesehenen Unterricht so weit wie möglich abzudecken. Da eine Französischlehrerin an die Schule befristet abgeordnet sei, könne den Antragstellern und Antragstellerinnen zumindest für den Zeitraum der Abordnung der bilinguale Unterricht wieder erteilt werden.

Es sei auch davon auszugehen, dass der in der Rahmenstundentafel vorgesehene Geographieunterricht im 2. Schulhalbjahr 2022/23 abgedeckt werden könne. Der bemängelte Unterrichtsausfall sei im Wesentlichen auf einen in Thüringen (und auch bundesweit) bestehenden erheblichen Lehrermangel zurückzuführen, dem aber nur mittelfristig bis langfristig abgeholfen werden könne. Soweit der bestehende Lehrermangel auf Versäumnisse in der Vergangenheit zurückzuführen sei, ändere dies nichts daran, dass der Antragsgegner glaubhaft gemacht habe, dass die für die Einhaltung der Rahmenstundentafeln benötigten personellen Kapazitäten aktuell nicht vorhanden seien, so das OVG in seiner Begründung. Das zeige allenfalls dringlichen Handlungsbedarf seitens des Freistaats.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Quelle: Thüringer OVG, Beschluss vom 30.1.2023, 4 EO 614/22, PM 1/23

Nachbarschaftsstreit: Kein Zwangsgeld bei unterbliebenem Heckenrückschnitt

Verpflichtet sich ein Nachbar zum Heckenrückschnitt und kommt aber dieser der Pflicht dann nicht nach, kann gegen ihn kein Zwangsgeld verhängt werden. Da der Rückschnitt nicht durch den Nachbarn persönlich vorgenommen werden muss, kann der Anspruchsberechtigte eine Ermächtigung beantragen, den Schnitt selbst auszuführen, entschied jetzt das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main.

Die Parteien sind Nachbarn. Die Klägerin verpflichtete sich im Rahmen eines Vergleichs, „die sich über die Länge der überdachten Terrasse der Beklagten ziehende Bepflanzung auf ihrer Seite auf eine Höhe von 2,50 m zu kürzen und auf dieser Höhe zu halten“. Die Beklagten rügen, dass die Klägerin ihrer Pflicht nicht nachgekommen sei. Sie beantragten deshalb, ein Zwangsgeld festzusetzen, um den Rückschnitt zu erzwingen, hilfsweise beantragten sie Zwangshaft. Das Landgericht (LG) war diesem Antrag nachgekommen und hatte ein Zwangsgeld von 500 Euro, ersatzweise für den Fall fehlender Beitreibbarkeit einen Tag Zwangshaft verhängt.

Die hiergegen eingelegte Beschwerde hatte vor dem OLG Erfolg. Ein Zwangsgeld zur Erzwingung der vergleichsweise übernommenen Verpflichtung sei hier rechtswidrig. Die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich beziehe sich nicht auf eine mittels Zwangsgeld durchsetzbare sog. nicht vertretbare Handlung. Der Rückschnitt der Bepflanzung müsse nicht durch die Klägerin persönlich, sondern könne auch durch Dritte erfolgen. Damit liege eine sog. vertretbare Handlung vor. Für die Beklagten sei es rechtlich und wirtschaftlich ohne jede Relevanz, wer die Arbeiten vornehme. Die Beklagten könnten folglich vor dem LG beantragen, ermächtigt zu werden, die erforderlichen Maßnahmen unter Einhaltung der naturschutzrechtlichen Grenzen selbst zu ergreifen. Soweit für die Vornahme der Arbeiten das Betreten des Grundstücks der Klägerin erforderlich sei, könnte auch eine Duldungsverpflichtung ausgesprochen werden.

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Quelle: OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 24.3.2023, 26 W 1/23, PM 21/23

Notwegerecht: Es besteht kein Recht auf den bequemsten Weg zum Haus

Das Landgericht (LG) Frankenthal (Pfalz) hat sich in einem aktuellen Urteil zu Umfang, Grenzen und Voraussetzungen eines Notwegerechts geäußert. Die Klage eines Nachbar-Ehepaars, das durch die Errichtung eines Zauns auf dem angrenzenden Grundstück ein angebliches Notwegerecht zu seinem Haus verletzt sah, wurde abgewiesen. Denn es sei möglich, über einen anderen Zugang auf das Grundstück zu gelangen. Dass dieser Weg weniger bequem sei als der gewünschte, müsse hingenommen werden, so das LG.

Mitbenutzung eines Grundstücks: Zaun sollte weichen

Hintergrund des Nachbarschaftsstreits war, dass die klagenden Eheleute über einige Zeit hinweg das Grundstück des beklagten Ehepaars mitbenutzten. Über dieses gelangten sie von der öffentlichen Straße aus mit Fahrrädern, Motorrädern und Mülltonen zum eigenen Hausgrundstück. Dort befinden sich ein überdachter Innenhof und mehrere Hauswirtschaftsräume. Nachdem die Nachbarn auf ihrem Grundstück entlang der Grundstücksgrenze einen Zaun errichtet hatten, war es dem klagenden Ehepaar nicht mehr möglich, auf diesem Weg in den Innenhof zu gelangen. Ihre Fahrräder u. ä. mussten sie fortan über einen anderen Weg, über zwei Stufen hinweg und durch den Hausflur hindurch befördern. Nach Ansicht der klagenden Eheleute sei ihnen dies nicht zuzumuten, weswegen sie von ihren Nachbarn Beseitigung des Zauns verlangten.

Keine Insellage

Das sah das LG jedoch anders. Ein Notwegerecht bestehe nur, wenn ein Grundstück von einer öffentlichen Straße nicht anders als über ein angrenzendes Grundstück zu erreichen ist. Hier liege aber keine solche Insellage vor. Das Eck-Grundstück der klagenden Eheleute grenze nämlich an zwei öffentliche Straßen und sei auch ohne Benutzung des benachbarten Grundstücks zu erreichen. Dass der alternative Weg umständlicher, weniger bequem oder kostspieliger herzurichten sei, spiele dabei keine Rolle. Ein Recht auf den bequemsten Weg könne aus den Grundsätzen zum Notwegerecht nicht abgeleitet werden.

Gehbehinderung unerheblich

Auch der Umstand, dass der klagende Ehemann unter einer Gehbehinderung leidet, führt nach Auffassung des LG zu keinem anderen Ergebnis. Denn für ein Notwegerecht seien allein die objektiven Begebenheiten maßgeblich. Auch eine verbindliche Vereinbarung der Nachbarn oder ein Gewohnheitsrecht sah die Kammer nicht als erwiesen an.

Das Urteil ist rechtskräftig.

Quelle: LG Frankenthal (Pfalz), Urteil vom 30.11.2022, 6 O 187/22, PM vom 27.3.2023

Gesetzliche Krankenversicherung: Kostenübernahme für das Einfrieren von Samenzellen erst ab Erlass der Kryo-Richtlinie 2021

Die gesetzliche Krankenversicherung muss erst ab Erlass der sog. Kryo-Richtlinie 2021 die Kosten für das Einfrieren von Samenzellen übernehmen. So entschied es das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen.

Zeugungsunfähigkeit drohte Mann ließ Samenzellen einfrieren

Ein 35-jähriger Mann bekam Ende 2019 die Diagnose Hodenkrebs. Unverzüglich ließ er den Tumor entfernen. Da seine Zeugungsfähigkeit durch Operation und Chemotherapie gefährdet war und er sich Kinder wünschte, empfahlen ihm die behandelnden Ärzte im Vorfeld eine Kryokonservierung von Samenzellen. Seinen Antrag auf Kostenübernahme für die Entnahme und Konservierung der Spermien lehnte die Krankenkasse ab. Das wollte der Mann nicht hinnehmen und klagte.

Klage in zweiter Instanz abgewiesen

Anders als die erste Instanz hat das LSG eine Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung verneint. Ein Leistungsanspruch gegen die Krankenkasse bestehe nicht bereits mit Erlass einer neuen Anspruchsnorm durch den Gesetzgeber, da diese erst in Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Voraussetzungen, Art und Umfang der einzelnen Maßnahmen ausgestaltet werden müsse. Vor Erlass einer entsprechenden Richtlinie fehlten wesentliche Aussagen über die Voraussetzungen einer Kryokonservierung als Sachleistung durch die Gesetzliche Krankenversicherung.

Der gesetzliche Leistungsanspruch verdichte sich erst mit Erlass der Richtlinie zu einem durchsetzbaren Einzelanspruch. Angesichts des ausdrücklichen Verweises im Gesetz sei klar ersichtlich, dass es zur Umsetzung der Norm noch weiterer Schritte in Form der Kryo-Richtline bedurfte.

Quelle: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14.10.2022, L 16 KR 256/21