Haftungsrecht: Überschreiten der Richtgeschwindigkeit muss keine Haftungsquote begründen

Verursacht ein vom rechten auf den linken Fahrstreifen einer Autobahn wechselnder Verkehrsteilnehmer einen Auffahrunfall, weil er den rückwärtigen Verkehr nicht beachtet, kann dem auffahrenden Verkehrsteilnehmer 100-prozentiger Schadenersatz zustehen. Das gilt auch, wenn er die Richtgeschwindigkeit von 130 km/h vor dem Zusammenstoß – maßvoll – überschritten hat.

Unter Hinweis auf diese Rechtslage hat das Oberlandesgericht (OLG) Hamm ein Urteil des LG Essen bestätigt. In dem Fall befuhr der seinerzeit 30 Jahre alte Sohn des Klägers mit dessen Pkw die linke Fahrspur der Autobahn. Er beabsichtigte, den auf der rechten Fahrspur fahrenden Beklagten mit einer Geschwindigkeit von ca. 150 km/h zu überholen. Als er sich dem Fahrzeug des Beklagten bereits genähert hatte, wechselte dieser ohne ersichtlichen Grund und ohne zu blinken auf die linke Fahrspur. Es kam zum Auffahrunfall.

Das LG hat dem Kläger vollen Ersatz des Unfallschadens zuerkannt. Der Beklagte habe den Unfall verschuldet. Er habe den Fahrstreifenwechsel nicht rechtzeitig und deutlich angekündigt. Zudem habe er ihn auch nicht so ausgeführt, dass eine Gefährdung anderer Verkehrsteilnehmer ausgeschlossen gewesen sei. Das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit sei wegen dieses groben Verschuldens nicht zu berücksichtigen.

Mit ihrer Berufung haben die Beklagten geltend gemacht, das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit habe die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs so erhöht, dass eine Mithaftung des Klägers in Höhe von 25 Prozent gerechtfertigt sei.

Dieser Argumentation hat sich das OLG nicht angeschlossen und die Berufung zurückgewiesen. Das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit begründe im vorliegenden Fall keine Mithaftung des Klägers, so der Senat. Dies folge aus der gebotenen Haftungsabwägung. Den Beklagten treffe ein erhebliches Verschulden. Aus Unachtsamkeit und ohne den rückwärtigen Verkehr zu beobachten habe er sein Fahrzeug auf die linke Fahrspur herübergezogen. Demgegenüber sei nicht bewiesen, dass der Sohn des Klägers einen mitverursachenden Verkehrsverstoß begangen habe. Er habe nicht mit einem plötzlichen Spurwechsel des Beklagten rechnen müssen, weil die Autobahn vor dessen Fahrzeug frei war. Eine Geschwindigkeitsbegrenzung sei auf dem Streckenabschnitt der BAB nicht angeordnet. Die Geschwindigkeit von 150 km/h sei mit den Straßen- und Sichtverhältnissen vereinbar gewesen.

Die Betriebsgefahr des klägerischen Fahrzeugs falle aufgrund des erheblichen Verschuldens des Beklagten im Abwägungsverhältnis nicht mehr ins Gewicht. Aus der maßvollen Überschreitung der Richtgeschwindigkeit um 20 km/h habe sich keine Gefahrensituation für den vorausfahrenden Beklagten ergeben. Im Unfall habe sich die mit der Überschreitung der Richtgeschwindigkeit für einen vorausfahrenden Verkehrsteilnehmer häufig verbundene Gefahr, dass die Annäherungsgeschwindigkeit des rückwärtigen Verkehrs unterschätzt werde, nicht verwirklicht. Der Beklagte habe aus Unachtsamkeit und ohne den rückwärtigen Verkehr überhaupt zu beobachten einen ungewollten Fahrstreifenwechsel ausgeführt. In diesem Fall habe das Überschreiten der Richtgeschwindigkeit für den Beklagten nicht gefahrerhöhend gewirkt. Davon habe auch der Sohn des Klägers ausgehen dürfen. Er habe aufgrund der freien Autobahn darauf vertrauen dürfen, dass der Beklagte den rechten Fahrstreifen nicht grundlos verlasse. (OLG Hamm, Beschlüsse vom 21.12.2017 und 8.2.2018, 7 U 39/17)