Bundessozialgericht: Gehunfähigkeit ist maßgeblich für die Nutzung von Behindertenparkplätzen

Das Bundessozialgericht (BSG) hat jetzt entschieden: Für die Zuerkennung des Merkzeichens „außergewöhnliche Gehbehinderung“ (aG) und damit für die Nutzung von Behindertenparkplätzen ist die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich. Kann der schwerbehinderte Mensch sich dort dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen, steht ihm das Merkzeichen aG zu (wenn auch die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind). Eine bessere Gehfähigkeit in anderen Lebenslagen, etwa unter idealen räumlichen Bedingungen oder allein in vertrauter Umgebung und Situation, ist für dessen Zuerkennung grundsätzlich ohne Bedeutung.

Fortschreitender Muskelschwund

In dem einen Verfahren leidet der Kläger u. a. an fortschreitendem Muskelschwund mit Verlust von Gang- und Standstabilität. Zwar ist ihm das Gehen auf einem Krankenhausflur möglich. Eine freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr im öffentlichen Verkehrsraum mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten besteht aber nicht mehr. Das BSG hat in diesem Fall die erste Voraussetzung für das Merkzeichen aG, eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, als erfüllt angesehen. Da es nicht abschließend entscheiden konnte, ob auch die zweite Voraussetzung erfüllt ist, wonach gerade die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung einem Grad der Behinderung von 80 entsprechen muss, wurde der Rechtsstreit an das Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen.

Globale Entwicklungsstörung

Im zweiten Verfahren konnte der Kläger infolge einer globalen Entwicklungsstörung nur in vertrauten Situationen im schulischen oder häuslichen Bereich frei gehen, nicht jedoch in unbekannter Umgebung. Das BSG hat entschieden, dass dem Kläger das Merkzeichen aG zusteht. Der auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in die Gesellschaft gerichtete Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts umfasst gerade auch das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbekannter Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die Gehfähigkeit ausschließlich in einer vertrauten Umgebung steht der Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht entgegen. Die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung des Klägers entspricht auch einem GdB von 80.

Quelle: BSG, Urteile vom 9.3.2023, B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R, PM 9/23

Eilverfahren: Ehrverletzung durch herabwürdigenden Tweet

Das Landgericht (LG) Frankfurt am Main hat entschieden: Betroffene können von Twitter verlangen, dass falsche oder ehrverletzende Tweets über sie gelöscht werden. Auch sinngemäße Kommentare mit identischem Äußerungskern muss Twitter entfernen, sobald das Unternehmen von der konkreten Persönlichkeitsrechtsverletzung Kenntnis erlangt.

Das war geschehen

Im September 2022 erschienen auf Twitter diverse Kommentare, in denen wahrheitswidrig behauptet wurde, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg habe „eine Nähe zur Pädophilie“ und er habe „einen Seitensprung gemacht“. Außerdem wurde über ihn verbreitet, er sei in „antisemitische Skandale“ verstrickt und „Teil eines antisemitischen Packs“.

Landgericht: Behauptungen ehrenrührig und unwahr

Das LG stellte in einem Eilverfahren fest, dass diese ehrenrührigen Behauptungen unwahr sind. Die Bezeichnung als Antisemit sei zwar zunächst eine Meinungsäußerung. Sie sei aber jedenfalls in dem gewählten Kontext rechtswidrig, denn sie trage nicht zur öffentlichen Meinungsbildung bei und ziele erkennbar darauf ab, in emotionalisierender Form Stimmung gegen den Antisemitismusbeauftragten zu machen.

Auch sinngleiche Kommentare sind untersagt

Nachdem der Antisemitismusbeauftragte die Entfernung dieser Kommentare verlangt hat, hätte Twitter ihre Verbreitung unverzüglich unterlassen und einstellen müssen. Darüber hinaus entschied das LG: „Das Unterlassungsgebot greift nicht nur dann, wenn eine Äußerung wortgleich wiederholt wird, sondern auch, wenn die darin enthaltenen Mitteilungen sinngemäß erneut veröffentlicht werden.“ Und weiter: „Die Äußerungen werden nicht in jeglichem Kontext untersagt. Betroffen sind nur solche Kommentare, die als gleichwertig anzusehen sind und die trotz gewisser Abweichungen einen identischen Äußerungskern aufweisen.“

Kein allgemeines Monitoring, sondern konkrete Prüfpflicht seitens Twitter

Twitter werde damit auch keine allgemeine Monitoring-Pflicht im Hinblick auf seine rund 237 Mio. Nutzer auferlegt. Eine Prüfpflicht bestehe nämlich nur hinsichtlich der konkret beanstandeten Persönlichkeitsrechtsverletzung. Das deutsche Recht mutet jedem Verpflichteten eines Unterlassungsgebots zu, selbst festzustellen, ob in einer Abwandlung das Charakteristische der konkreten Verletzungsform zum Ausdruck kommt und damit kerngleich ist. Twitter befindet sich damit in keiner anderen Situation, als wenn eine bestimmte Rechtsverletzung gemeldet wird. Auch in diesem Fall muss Twitter prüfen, ob diese Rechtsverletzung eine Löschung bedingt oder nicht, so das LG.

Über Fakten darf hingegen informiert werden

Als zulässig erachtete es indes die Äußerung eines Nutzers, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg sei in die jährlich vom Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles veröffentlichte Liste der größten Antisemiten weltweit aufgenommen worden. Unabhängig davon, ob die Aufnahme in diese Liste gerechtfertigt sei, dürfe darüber informiert werden. Dagegen müsse sich der Antisemitismusbeauftragte im öffentlichen Meinungskampf zur Wehr setzen.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Es kann mit der Berufung zum Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main angefochten werden.

Quelle: LG Frankfurt am Main, 14.12.2022, 2-03 O 325/22, PM vom 14.12.2022

Schadenersatz: Parkhausbetreiber haftet nicht für Schäden infolge Sex auf dem Auto

Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadenersatz für die Beschädigung seines Pkw. Er hatte diesen im Parkhaus der Beklagten abgestellt. Die Parteien stritten im Wesentlichen darum, ob die Beklagte während des Einstellzeitraums eine Verkehrssicherungspflicht verletzt hat. Nein, sagt dazu jetzt das Landgericht (LG) Köln.

Während des Einstellzeitraums kamen in der Nacht zwei unbekannte Personen in das Parkhaus und hatten Geschlechtsverkehr auf der Motorhaube des klägerischen Fahrzeugs. Im Anschluss verließen die beiden Personen das Parkhaus, ohne dass deren Identität festgestellt worden wäre. Als der Kläger am nächsten Morgen zu seinem Fahrzeug zurückkehrte, bemerkte er, dass sein Wagen verschiedene Beschädigungen aufwies. Daraufhin nahm er Kontakt zum Wachpersonal des Parkhauses auf, das ihm die Aufnahmen der Überwachungskameras zeigte.

Das Fahrzeug wies mehrere Schäden auf. Der Kläger behauptet, diese seien beim Verlassen des Wagens nicht vorhanden gewesen und daher während der Parkzeit und durch die Handlungen der beiden Unbekannten entstanden. Der Kläger ist der Auffassung, dass es Aufgabe der Beklagten, bzw. ihrer Mitarbeiter gewesen sei, die Videoaufzeichnungen durchgehend zu beobachten und derartige Vorkommnisse zu unterbinden. Wenigstens sei zu erwarten gewesen, dass die Beklagte den Vorgang bemerken und die Polizei rufen würde, damit die Identität der Unbekannten festgestellt werden könnte. Die Beklagte meint, solche Verkehrssicherungspflichten träfen sie nicht.

Das LG: Die Pflichten der Beklagten gehen nicht so weit, dass sie die von ihr installierten Überwachungskameras ununterbrochen beobachten lassen müsste, um etwaige Verstöße gegen die Sicherheit und Ordnung im Parkhaus lückenlos zu bemerken oder gar verhindern zu können. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Kameras mehr zu repressiven als zu präventiven Zwecken eingesetzt werden. Für den Fall, dass ein Fahrzeughalter bei Rückkehr zu seinem Fahrzeug neue Beschädigungen feststellt, kann er also auf die Beklagte zukommen, diese kann bei den Aufnahmen nachforschen und ggf. bei der Aufklärung des Schadenfalls helfen. Im Normalfall wird dies auch erfolgreich sein, da z. B. bei „Parkremplern“ regelmäßig das Kennzeichen des Unfallgegners zu sehen und die Tat dokumentiert sein dürfte.

Hier, so das LG, dürfte sich die eigentliche Beschädigungshandlung in zeitlich engen Grenzen gehalten haben. Insoweit hat der Kläger angegeben, dass der „relevante Abschnitt“, von dem er die Bildschirmfotos angefertigt hat, die mit der Klageschrift eingereicht wurden, lediglich neun Minuten lang ist. Bei einer solch kurzen Dauer stellt es nach Ansicht des LG keine Verfehlung der Beklagten dar, dass diese Handlungen nicht bemerkt oder gar verhindert wurden.

Quelle: LG Köln, Urteil vom 9.2.2023, 210 O 302/22

Bankrecht: Verwahrentgelte müssen zurückgezahlt werden

Durch AGB erhobene Verwahrentgelte sind unzulässig und führen zu einer Rückzahlungspflicht an den Verbraucher. So hat es das Landgericht (LG) Nürnberg-Fürth entschieden.

Geklagt hatte der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv). Die betroffene Bank hatte ab einem Guthaben von 10.000,01 Euro auf einem Girokonto und ab dem ersten Cent auf einem Tagesgeldkonto Verwahrentgelte von 0,5 Prozent p. a. erhoben. Gegen die Klauseln hatte der vzbv geklagt und nach Maßgabe des Unterlassungsklagengesetzes einen Unterlassungsanspruch wegen des Verstoßes gegen die AGB-Regeln des BGB erfolgreich geltend gemacht.

Das Kreditinstitut hat die Entscheidung erwartbar nicht akzeptiert. Es ist in Berufung gegangen.

Quelle: LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 28.10.2022, 7 O 566/21

Tierhalterhaftung: Gebissen, weil sie Hund und Katze trennen wollte …

Der Halter eines Tieres haftet nicht nur für unmittelbar durch das Tier verursachte Verletzungen. Die Tierhalterhaftung erfasst vielmehr auch Fälle, in denen ein Mensch sich aufgrund der vom Tier herbeigeführten Gefahr zu helfendem Eingreifen veranlasst sieht. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat den Halter eines Hundes verurteilt, Schmerzensgeld zu zahlen, da dieser den Kater der Klägerin angegriffen hatte. Beim Versuch, die Tiere zu trennen, stürzte die Klägerin.

Die Klägerin wollte die Tiere trennen

Die Parteien sind Nachbarn. Sie räumten im Januar 2017 gleichzeitig Schnee von ihren Grundstücken. Unter dem Neuschnee hatte sich auf dem klägerischen Grundstück eine vereiste Fläche gebildet. Der Hütehund des Beklagten gelangte während der Räumarbeiten auf das Grundstück der Klägerin. Ob die Klägerin nachfolgend stürzte, da der Hund des Beklagten den Kater der Klägerin angegriffen hatte, ist zwischen den Parteien streitig. Das Landgericht (LG) hatte nach Beweisaufnahme die auf Schmerzensgeld und Feststellung der Einstandspflicht für weitere Schäden gerichtete Klage abgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin stellte das OLG dagegen fest, dass der Klägerin dem Grunde nach ein Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadenersatz zustehe.

Tiergefahr hatte sich realisiert

Der Beklagte hafte nach den Grundsätzen der sog. Tiergefahr, begründete das OLG seine Entscheidung. Nach der Beweisaufnahme sei davon auszugehen, dass die Klägerin gestürzt sei, da sich der Hund auf ihren Kater gestürzt und diesen am Kopf gepackt habe. Die Klägerin habe die Tiere mit ihrem Besen trennen wollen. Sowohl die Angaben der Klägerin als auch die des Beklagten deckten diesen Geschehensablauf. Der Beklagte hatte im Rahmen seiner Anhörung klargestellt, dass er lediglich gesehen habe, „dass sein Hund Schläge bezogen habe“. Die Sicht auf das weitere Geschehen sei dagegen verdeckt gewesen. Es spreche nichts dafür, dass die Klägerin den Hund „ohne jeden Grund geschlagen haben sollte“. Die Klägerin habe den Hund vielmehr schon lange gekannt und in der Vergangenheit regelmäßig mit ihm gespielt. Das vom Beklagten berichtete Schlagen lasse sich „ohne Weiteres in Übereinstimmung bringen mit der Schilderung der Klägerin, sie habe versucht, mit dem Besen die Tiere zu trennen“. Die Angaben der Klägerin seien auch von den Zeuginnen bestätigt worden. Aus der ärztlichen Stellungnahme ergebe sich zweifelsfrei, dass die Klägerin in der fraglichen Zeit Verletzungen am Hand- und Kniegelenk erlitten habe.

Hundehalter muss zahlen nur wie viel, steht noch nicht fest

Als Halter des Hundes habe der Beklagte damit für die erlittenen Schäden einzustehen. Die verschuldensunabhängige Haftung des Tierhalters bestehe bereits, wenn eine Verletzung „adäquat kausal auf ein Tierverhalten zurückzuführen ist“. Es komme nicht auf eine unmittelbar durch das Tier bewirkte Verletzung an. Ausreichend sei, „wenn sich ein Mensch durch die von dem Tier herbeigeführte Gefahr zu helfendem Eingreifen veranlasst sieht“, betont das OLG. So liege es hier. Die Klägerin habe sich durch den Angriff des Hundes dazu veranlasst gesehen, dem Kater zur Hilfe zu eilen. Auch wenn es angesichts der winterlichen Verhältnisse aus objektiver Sicht unklug gewesen sei, sich schnell auf die Tiere zuzubewegen, sei es doch eine völlig naheliegende Reaktion gewesen.

Der Höhe nach ist über die erlittenen Verletzungen noch Beweis zu erheben, sodass das OLG zunächst nur die Haftung dem Grunde nach festgestellt hat.

Die Anfechtbarkeit der Entscheidung hängt von der Wertfestsetzung des Revisionsgerichts ab.

Quelle: OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 18.1.2023, 4 U 249/21, PM 6/2

Vereinsvorstände und Kassenwarte: Broschüre „Vereine & Steuern“ neu aufgelegt

Das Finanzministerium Nordrhein-Westfalen hat die Broschüre „Vereine & Steuern“ neu aufgelegt (Stand: Februar 2023). Der Ratgeber wendet sich an Vereinsvorstände (insbesondere an Kassenwarte) und behandelt von der Gemeinnützigkeit bis zur Zuwendungsbestätigung wichtige Themen. Die Broschüre ist auf der Website des Finanzministeriums Nordrhein-Westfalen (unter www.iww.de/s7908) verfügbar.

Kostenübernahme: Grundsätze der Arzneimittelzulassung gelten auch bei Risiken in der Schwangerschaft

Das Bundessozialgericht (BSG) hat klargestellt, dass Frauen ausnahmsweise Anspruch auf ein für die konkrete Behandlung nicht zugelassenes Arzneimittel haben, um ihr ungeborenes Kind vor einer gefährlichen Infektion zu schützen. Dafür ist erforderlich, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen oder besonders schweren Verlauf spricht.

Die schwangere Klägerin hatte sich mit dem für sie ungefährlichen Zytomegalievirus infiziert. Es bestand jedoch ein Ansteckungsrisiko für das ungeborene Kind mit potenziell schwerwiegenden Folgen bis hin zum Abort. Bei der großen Mehrheit der Schwangerschaften infizierter Mütter kommen Kinder gesund zur Welt. Das von der Klägerin begehrte Arzneimittel sollte die Ansteckungswahrscheinlichkeit für das Ungeborene verringern. Es war aber hierfür nicht zugelassen und nicht abschließend erforscht. Die Krankenkasse lehnte die Übernahme der Kosten deshalb ab.

Das BSG hat diese Entscheidung bestätigt. Der Staat muss das Leben und die körperliche Unversehrtheit der Versicherten schützen. Diese Schutzpflicht erstreckt sich bei schwangeren Frauen auch auf das ungeborene Kind.

Die Ausgestaltung des Leistungsrechts der gesetzlichen Krankenversicherung obliegt aber dem Gesetzgeber. Nur in extremen, nun einfachgesetzlich geregelten Ausnahmefällen haben Versicherte außerhalb des jeweils maßgeblichen Qualitätsgebots weitergehende Ansprüche, wenn sie sich in einer notstandsähnlichen Situation befinden. Dabei muss eine hohe Wahrscheinlichkeit für einen tödlichen oder besonders schweren Krankheitsverlauf sprechen. Das war nach der hier allein möglichen statistischen Betrachtung nicht der Fall.

Quelle: BSG, Urteil vom 24.1.2023, B 1 KR 7/22 R, PM 1/23

Schmerzensgeld: Pferd schubst Radlerin

Muss eine Pferdehalterin einer Radfahrerin ein Schmerzensgeld zahlen, wenn diese von dem Tier vom Rad geschubst wird und sich dabei verletzt? Diese Frage hat das Landgericht (LG) Koblenz jetzt entschieden.

Im Mai 2021 unternahm die Klägerin gemeinsam mit ihrem Ehemann eine Radtour. Auf dem Weg kamen ihr zwei Reiterinnen entgegen. Als sie an dem zweiten Pferd vorbeifahren wollte, stürzte sie. Dabei zog sie sich diverse Prellungen und einen Trümmerbruch der rechten Schulter zu. Sie kam für mehr als eine Woche ins Krankenhaus und wurde operiert.

Im Prozess behauptete die Klägerin, das Pferd habe sie mit dem Hinterteil vom Rad geschubst. Deshalb verlangte sie nun von der beklagten Pferdehalterin ein angemessenes Schmerzensgeld und die Erstattung ihrer Behandlungs- und Anwaltskosten. Die Beklagte verweigerte die Zahlung. Sie behauptete, die Klägerin sei gestürzt, weil sie unachtsam gebremst habe. Zu einem Kontakt zwischen der Klägerin und dem Pferd sei es gar nicht gekommen.

Das LG hat die Pferdehalterin zu einem Schmerzensgeld von 6.000 Euro verurteilt. Nach einer Vernehmung der Klägerin, ihres Mannes und der beiden Reiterinnen zeigte sich das LG überzeugt, dass das Pferd sein Hinterteil in Richtung der gerade vorbeifahrenden Klägerin drehte und sie so vom Rad stieß. Wenn aber ein Tier einen Menschen verletze, müsse der Tierhalter den daraus entstehenden Schaden ersetzen. Letztlich komme es nicht einmal darauf an, ob es tatsächlich zu einer Berührung zwischen dem Pferd und der Radlerin gekommen sei. Auch wenn die Klägerin gebremst habe und dabei gestürzt sei, weil das Tier ihr plötzlich mit dem Hinterteil den Weg versperrt habe, habe sich dadurch „die Tiergefahr realisiert“. Ein Mitverschulden der Klägerin sah das Gericht nicht. Angesichts der erheblichen Verletzung an der Schulter mit einer dauerhaften Bewegungseinschränkung hielt das LG ein Schmerzensgeld von 6.000 Euro für angemessen. Auch die Arzt- und Anwaltskosten muss die Beklagte nun übernehmen. Das Urteil ist nicht rechtskräftig.

Quelle: LG Koblenz, Urteil vom 14.10.2022, 9 O 140/21

Unterlassung: „Bitte keine Werbung einwerfen“ gilt auch im Hauseingang

Schon im vergangenen Jahr untersagte das Amtsgericht (AG) München einem Umzugsunternehmen, Werbematerial auf der Briefkastenanlage oder vor dem Hauseingang des vom Kläger bewohnten Mehrfamilienhauses abzulegen. Für jeden Fall der Zuwiderhandlung hat es ein Ordnungsgeld von bis zu 250.000 Euro angedroht, ersatzweise Ordnungshaft bis zu sechs Monaten. Das Urteil ist nun rechtskräftig und hat damit besondere Bedeutung.

Werbeflyer nicht direkt im Briefkasten

Der Kläger fand an der Briefkastenanlage zwei Werbeflyer des Umzugsunternehmens vor, die in eine Ritze zwischen einem Briefkasten und einem darunter liegenden Spalt der Briefkastenanlage geklemmt waren. Sämtliche Briefkästen der Anlage waren mit dem Hinweis „Bitte keine Werbung einwerfen“ gekennzeichnet. Nach Auffassung des Klägers habe die Beklagte die Werbeflyer in rücksichtsloser Art verteilen lassen. Die Bewohner des Hauses, die schon keine Werbung erhalten möchten, legten erst recht keinen Wert auf wild abgelegte oder befestigte Reklame. Hierdurch erhöhe sich der Lästigkeitsfaktor erheblich.

So wehrte sich das werbende Unternehmen

Die Beklagte meinte demgegenüber, sie habe die angeblich störende Art einer Verteilung von Werbematerial nicht veranlasst und auch nicht zu vertreten. Die von ihr beauftragten Verteiler seien angewiesen, Werbung nur in Briefkästen einzulegen, die keinen Hinweis enthielten, dass der Nutzer keine Werbung haben möchte. Sie verwies außerdem darauf, dass die Briefkastenanlage der Wohnanlage für jeden Passanten zugänglich sei und daher auch unbekannte Dritte das Werbematerial dort abgelegt haben könnten.

So sah es das Amtsgericht

Das Gericht gab der Klage statt. Hier lag eine sog. Besitzstörung vor. Diese ist durch das Einwerfen von Werbeflyern anzunehmen, wenn wie hier erkennbar zu verstehen gegeben wird, dass der Einwurf von Werbung nicht erwünscht ist. Dem Wohnungsbesitzer steht das Recht zu, sich gegen eine Beeinträchtigung seiner räumlich-gegenständlichen Sphäre durch das Aufdrängen von unerwünschtem Werbematerial zur Wehr zu setzen. Zwar wurde im vorliegenden Fall der Werbeflyer nicht in den dem Kläger zugewiesenen Briefkasten gesteckt; der Kläger wurde jedoch in seinem Mitbesitz an der Briefkastenanlage und am Eingangsbereich des Mehrfamilienhauses gestört.

Die Beklagte ist mittelbare Störerin, da sie Flyer der gegenständlichen Art unstreitig im streitgegenständlichen Zeitraum in München hat verteilen lassen. Der Einwand der Klägerin, ihre Austräger hätten die Flyer im konkreten Fall nicht verteilt, greift nicht durch. Nach den Grundsätzen des Anscheinsbeweises kann davon ausgegangen werden, dass Handzettel eines Unternehmens auch von Werbeverteilern, die für das Unternehmen tätig sind, im Zuge von Werbeaktionen eingeworfen wurden. Hierbei handelt es sich um einen typischen Geschehensablauf. Die pauschale Behauptung, Dritte könnten Handzettel verteilt haben, steht dem Anscheinsbeweis nicht entgegen.

Auch der Einwand der Beklagten, sie habe die von ihr beauftragten Austräger angewiesen, Werbung nur auf erlaubte Weise zu verteilen, verfängt nicht. Die Beklagte muss die von ihr beauftragten Verteiler eindringlich auf die Notwendigkeit einer entsprechenden Organisation und Kontrolle der Werbeaktion hinweisen, sich über den Einsatz geeigneter Schutzvorkehrungen zu vergewissern, Beanstandungen nachzugehen, schließlich gegebenenfalls dem Anliegen durch Androhung wirtschaftlicher und rechtlicher Sanktionen einen stärkeren Nachdruck zu verleihen. Zu denken ist hier etwa an eine Vertragsstrafenvereinbarung.

Quelle: AG München, Urteil vom 18.3.2022, 142 C 12408/21, PM vom 6.3.2023

Hundehalterhaftung: Schmerzensgeld für Biss-Verletzung beim Streicheln eines Hundes

Das Landgericht (LG) Frankenthal hat einer jungen Frau ein volles Schmerzensgeld zugesprochen, nachdem ihr ein Hund in das linke Ohr gebissen hatte. Die Frau hatte sich zuvor zu dem ihr vertrauten Rottweiler-Rüden hinuntergebeugt und ihn am Kopf gestreichelt. Das hat das LG nach den konkreten Umständen jedoch nicht als Mitverschulden der verletzten Frau gewertet. Insgesamt erhielt sie Schmerzensgeld von 4.000 Euro.

Das war geschehen

Die Frau war zu Besuch bei ihrer Freundin und man saß gemeinsam in der Küche. Mit dabei war auch der Rottweiler-Rüde des Bruders der Freundin, mit dem die junge Frau gut vertraut war. Schon oft zuvor hatte sie mit ihm ohne Probleme gespielt und gekuschelt, doch dieses Mal schnappte der Hund nach ihr und biss ihr in das linke Ohr. Die Wunde musste mit zahlreichen Stichen genäht werden; die Frau war mehr als eine Woche lang arbeitsunfähig und klagt noch immer über fortbestehende Schmerzen bei Druck- und Kälteeinwirkungen.

Der als Halter des Rottweilers verklagte Bruder der Freundin warf der verletzten Frau vor, sie habe den Unfall durch ihr Verhalten erheblich mitverschuldet. Denn sie habe sich zu dem Tier hinuntergebeugt und es damit gestört.

Landgericht: Hundehalter haftet für sein Haustier

Das sah das LG anders: Es hat zunächst klargestellt, dass ein Hundehalter haftet, wenn sein Haustier einen anderen Menschen verletzt, auch wenn ihm kein falsches Verhalten vorzuwerfen ist. Denn die Haftung für ein Haustier, das nicht zur Berufsausübung gehalten wird, setzt ein Verschulden nicht voraus. Allerdings müsse sich der Verletzte im Einzelfall ein eigenes Fehlverhalten als Mitverschulden anrechnen lassen. Im konkreten Fall konnte ein solches nach Ansicht des Richters aber nicht bewiesen werden. Die bloße Hinwendung zu einem Tier, etwa durch Streicheln oder Umarmen, könne ein Mitverschulden nicht begründen. Dies gelte jedenfalls, wenn man das Tier schon eine geraume Zeit kenne und es bisher kein aggressives Verhalten gegeben habe.

Hundehalter war in der Beweispflicht

Den Einwand des Hundehalters, die Frau habe den Hund gestreichelt, obwohl dieser gerade am Fressen gewesen sei und man sie deutlich gewarnt habe, sah das LG nicht als bewiesen an. Die Beweislast für ein solches Mitverschulden liege in solchen Fällen aber beim Tierhalter selbst. Zweifel gingen deshalb zu seinen Lasten.

Das Urteil ist rechtskräftig.

Quelle: LG Frankenthal, Urteil vom 4.11.2022, 9 O 42/21, PM vom 21.12.2022