BAföG: Semesterleistungen nicht erbracht? Ausbildungsförderung kann es trotzdem geben!

Studierende, die den für weitere Leistungen nach dem BAföG über das vierte Fachsemester hinaus erforderlichen Nachweis über den üblichen Leistungsstand nicht erbringen, können ausnahmsweise dennoch Anspruch auf Ausbildungsförderung haben. Dann muss aber das Nichtbestehen von Leistungsanforderungen erstmals zu einer aus studienorganisatorischen Gründen zwingenden Wiederholung von Semestern führen. Dabei kommt es auf die Anzahl der nicht erbrachten Leistungsnachweise nicht an, die Ursache für die Verlängerung des Studiums sind. Dies hat das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) entschieden.

Leistungsnachweise nicht erbracht

Die Klägerin ist Studentin der Pharmazie. Nachdem sie den erforderlichen Nachweis über die üblichen Studienleistungen („Scheine“) bis zum Abschluss des vierten Fachsemesters nicht vorlegen konnte, beantragte sie beim beklagten Studierendenwerk vergeblich, die Förderung fortzusetzen. Die von der Klägerin daraufhin erhobene Klage auf Weiterförderung im fünften und sechsten Fachsemester hat das Verwaltungsgericht (VG) abgewiesen. Grund: Eine Verlängerung der Förderungshöchstdauer komme nur bei einem einmaligen Leistungsversagen in Betracht. Die Klägerin habe jedoch in den ersten beiden Semestern zwei Leistungsnachweise nicht erbracht, die für die Teilnahme an Veranstaltungen in den beiden Folgesemestern erforderlich waren und sie daran hinderten, weitere Leistungsnachweise zu erbringen.

Grundsatz und Ausnahme

Vor dem BVerwG hatte die Klägerin jedoch Erfolg. Zwar ist die Weitergewährung von Ausbildungsförderung ausgeschlossen, wenn Studierende eine Zwischenprüfung nicht bestehen oder wie hier die bis zum vierten Fachsemester üblichen Leistungen nicht erbringen. Ausnahmsweise ist aber die Frist zur Vorlage der Leistungsnachweise zu verlängern und weiter Ausbildungsförderung zu gewähren, wenn voraussichtlich eine Überschreitung der Förderungshöchstdauer zu bewilligen sein wird. Dies ist nach dem Gesetz anzunehmen, wenn ein schwerwiegender Grund für die Überschreitung vorliegt. Ein solcher Grund ist schon von der bisherigen Rechtsprechung des BVerwG insbesondere angenommen worden, wenn Studierende erstmals eine Zwischenprüfung nicht bestehen und deshalb an der planmäßigen Fortsetzung des Studiums gehindert sind. Sie sollen im Fall des Nichtbestehens der bis zum vierten Semester erforderlichen Leistungsanforderungen, das zu einer erstmaligen Verzögerung des Studiums führt, eine zweite Chance erhalten, den Leistungsrückstand in angemessener Zeit durch Ablegung der entsprechenden Prüfungen aufzuholen. Diese gesetzliche Wertung greift auch, wenn die Nichterbringung sonstiger Leistungsnachweise dazu führt, dass eine planmäßige Fortsetzung des Studiums in einem höheren Semester nicht möglich ist, weil zunächst nicht bestandene Studienleistungen wiederholt werden müssen.

Das ist entscheidend

Dabei kommt es nicht darauf an, ob nur ein Leistungsversagen für die Verzögerung ursächlich ist oder ob mehrere nicht bestandene Leistungsnachweise im Zusammenwirken diese Folge auslösen. Entscheidend ist allein, ob es Studierenden aus studienorganisatorischen Gründen erstmalig objektiv unmöglich ist, die fehlenden Leistungen ohne eine sich auf die Förderungshöchstdauer auswirkende Verzögerung des Studiums zu erbringen. Dies ist hier der Fall gewesen, was zu einer Verlängerung des Grundstudiums der Klägerin um zwei Semester führt, für die Ausbildungsförderung in gesetzlicher Höhe zu gewähren war.

Quelle: BVerwG, Urteil vom 3.3.2023, 5 C 6.21, PM 17/23

Unterrichtsausfall: Kein Anspruch auf lehrplanmäßigen Unterricht bei Lehrermangel

Das Thüringer Oberverwaltungsgerichts (OVG) hat in einem wegen Unterrichtsausfall angestrengten Eilrechtsstreit die von neun Schülern und Schülerinnen erhobenen Beschwerden zurückgewiesen. Sein Fazit: Herrscht Lehrermangel, genügt Unterricht im Rahmen des Möglichen.

Schüler befürchten Nachteile

Die Schüler und Schülerinnen besuchen die 8. Klasse des französisch-bilingualen Zweigs eines staatlichen Gymnasiums. Durch den Ausfall von Schulstunden wegen Lehrermangel sehen sie sich in ihrem durch das Grundgesetz und die Thüringer Verfassung geschützten Recht auf Bildung verletzt. Insbesondere befürchten sie, dass sie wegen des Stundenausfalls in den bilingual unterrichteten Fächern die Anforderungen für den Erwerb des Europäischen Exzellenzlabels „CertiLingua“ verfehlen werden und wollen Nachteile für die besondere Leistungsfeststellung in der Klassenstufe 10 und die spätere Abiturprüfung abwenden.

Anspruch nicht glaubhaft gemacht

Im Rahmen eines verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens begehrten sie deshalb, den Freistaat Thüringen zu verpflichten, den Unterricht nach dem ungekürzten Stundenplan (sog. Rahmenstundentafel) abzusichern. Das zunächst angerufene Verwaltungsgericht (VG) hat den Eilantrag abgelehnt. Die dagegen erhobene Beschwerde hat das OVG nun zurückgewiesen. Die Antragsteller und Antragstellerinnen hätten keinen Anspruch auf Unterricht entsprechend dem ungekürzten Stundenplan der 8. Klasse glaubhaft gemacht.

Kein Anspruch auf bestimmte Gestaltung des Unterrichts

Das Zertifikat CertiLingua gehöre nicht zum Bildungsgang des Gymnasiums im bilingualen Zweig und werde ausschließlich im außerschulischen Bereich vergeben. Der bilinguale Zweig stelle demgegenüber in Thüringen ein rechtlich anerkanntes Schulprofil mit dem Ziel der Begabtenförderung dar. Aber auch daraus folge kein Anspruch auf Erteilung unverkürzten Unterrichts. Der Staat komme seiner Pflicht aus dem verfassungsrechtlich abgesicherten Recht auf Bildung nach, wenn er das Schulwesen so plane und organisiere, dass allen jungen Bürgern nach ihren Fähigkeiten die dem heutigen gesellschaftlichen Leben entsprechenden Bildungsmöglichkeiten offen stehen. Bei der Festlegung der Schulorganisation, der Erziehungsprinzipien und Unterrichtsgegenstände habe der Staat eine weitgehende Gestaltungsfreiheit, die auch im Hinblick auf die personelle und sächliche Ausstattung immer unter dem Vorbehalt des Möglichen stehe und der elterlichen Bestimmung entzogen sei. Eltern und Schüler könnten daher keine bestimmte, ihren Wünschen entsprechende Gestaltung des Schulunterrichts verlangen. Anlass zu gerichtlichem Einschreiten sei erst gegeben, wenn es die Schulverwaltung in Fällen von Unterrichtsausfall unterlasse, zeitnah die erforderlichen Maßnahmen im Rahmen des Möglichen zu ergreifen.

Aufgrund des Vortrags des Freistaats hatte das OVG keinen Zweifel, dass die Schulverwaltung alle Anstrengungen unternehme, um den in den Rahmenstundentafeln vorgesehenen Unterricht so weit wie möglich abzudecken. Da eine Französischlehrerin an die Schule befristet abgeordnet sei, könne den Antragstellern und Antragstellerinnen zumindest für den Zeitraum der Abordnung der bilinguale Unterricht wieder erteilt werden.

Es sei auch davon auszugehen, dass der in der Rahmenstundentafel vorgesehene Geographieunterricht im 2. Schulhalbjahr 2022/23 abgedeckt werden könne. Der bemängelte Unterrichtsausfall sei im Wesentlichen auf einen in Thüringen (und auch bundesweit) bestehenden erheblichen Lehrermangel zurückzuführen, dem aber nur mittelfristig bis langfristig abgeholfen werden könne. Soweit der bestehende Lehrermangel auf Versäumnisse in der Vergangenheit zurückzuführen sei, ändere dies nichts daran, dass der Antragsgegner glaubhaft gemacht habe, dass die für die Einhaltung der Rahmenstundentafeln benötigten personellen Kapazitäten aktuell nicht vorhanden seien, so das OVG in seiner Begründung. Das zeige allenfalls dringlichen Handlungsbedarf seitens des Freistaats.

Der Beschluss ist unanfechtbar.

Quelle: Thüringer OVG, Beschluss vom 30.1.2023, 4 EO 614/22, PM 1/23

Nachbarschaftsstreit: Kein Zwangsgeld bei unterbliebenem Heckenrückschnitt

Verpflichtet sich ein Nachbar zum Heckenrückschnitt und kommt aber dieser der Pflicht dann nicht nach, kann gegen ihn kein Zwangsgeld verhängt werden. Da der Rückschnitt nicht durch den Nachbarn persönlich vorgenommen werden muss, kann der Anspruchsberechtigte eine Ermächtigung beantragen, den Schnitt selbst auszuführen, entschied jetzt das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main.

Die Parteien sind Nachbarn. Die Klägerin verpflichtete sich im Rahmen eines Vergleichs, „die sich über die Länge der überdachten Terrasse der Beklagten ziehende Bepflanzung auf ihrer Seite auf eine Höhe von 2,50 m zu kürzen und auf dieser Höhe zu halten“. Die Beklagten rügen, dass die Klägerin ihrer Pflicht nicht nachgekommen sei. Sie beantragten deshalb, ein Zwangsgeld festzusetzen, um den Rückschnitt zu erzwingen, hilfsweise beantragten sie Zwangshaft. Das Landgericht (LG) war diesem Antrag nachgekommen und hatte ein Zwangsgeld von 500 Euro, ersatzweise für den Fall fehlender Beitreibbarkeit einen Tag Zwangshaft verhängt.

Die hiergegen eingelegte Beschwerde hatte vor dem OLG Erfolg. Ein Zwangsgeld zur Erzwingung der vergleichsweise übernommenen Verpflichtung sei hier rechtswidrig. Die Zwangsvollstreckung aus dem Vergleich beziehe sich nicht auf eine mittels Zwangsgeld durchsetzbare sog. nicht vertretbare Handlung. Der Rückschnitt der Bepflanzung müsse nicht durch die Klägerin persönlich, sondern könne auch durch Dritte erfolgen. Damit liege eine sog. vertretbare Handlung vor. Für die Beklagten sei es rechtlich und wirtschaftlich ohne jede Relevanz, wer die Arbeiten vornehme. Die Beklagten könnten folglich vor dem LG beantragen, ermächtigt zu werden, die erforderlichen Maßnahmen unter Einhaltung der naturschutzrechtlichen Grenzen selbst zu ergreifen. Soweit für die Vornahme der Arbeiten das Betreten des Grundstücks der Klägerin erforderlich sei, könnte auch eine Duldungsverpflichtung ausgesprochen werden.

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Quelle: OLG Frankfurt am Main, Beschluss vom 24.3.2023, 26 W 1/23, PM 21/23

Notwegerecht: Es besteht kein Recht auf den bequemsten Weg zum Haus

Das Landgericht (LG) Frankenthal (Pfalz) hat sich in einem aktuellen Urteil zu Umfang, Grenzen und Voraussetzungen eines Notwegerechts geäußert. Die Klage eines Nachbar-Ehepaars, das durch die Errichtung eines Zauns auf dem angrenzenden Grundstück ein angebliches Notwegerecht zu seinem Haus verletzt sah, wurde abgewiesen. Denn es sei möglich, über einen anderen Zugang auf das Grundstück zu gelangen. Dass dieser Weg weniger bequem sei als der gewünschte, müsse hingenommen werden, so das LG.

Mitbenutzung eines Grundstücks: Zaun sollte weichen

Hintergrund des Nachbarschaftsstreits war, dass die klagenden Eheleute über einige Zeit hinweg das Grundstück des beklagten Ehepaars mitbenutzten. Über dieses gelangten sie von der öffentlichen Straße aus mit Fahrrädern, Motorrädern und Mülltonen zum eigenen Hausgrundstück. Dort befinden sich ein überdachter Innenhof und mehrere Hauswirtschaftsräume. Nachdem die Nachbarn auf ihrem Grundstück entlang der Grundstücksgrenze einen Zaun errichtet hatten, war es dem klagenden Ehepaar nicht mehr möglich, auf diesem Weg in den Innenhof zu gelangen. Ihre Fahrräder u. ä. mussten sie fortan über einen anderen Weg, über zwei Stufen hinweg und durch den Hausflur hindurch befördern. Nach Ansicht der klagenden Eheleute sei ihnen dies nicht zuzumuten, weswegen sie von ihren Nachbarn Beseitigung des Zauns verlangten.

Keine Insellage

Das sah das LG jedoch anders. Ein Notwegerecht bestehe nur, wenn ein Grundstück von einer öffentlichen Straße nicht anders als über ein angrenzendes Grundstück zu erreichen ist. Hier liege aber keine solche Insellage vor. Das Eck-Grundstück der klagenden Eheleute grenze nämlich an zwei öffentliche Straßen und sei auch ohne Benutzung des benachbarten Grundstücks zu erreichen. Dass der alternative Weg umständlicher, weniger bequem oder kostspieliger herzurichten sei, spiele dabei keine Rolle. Ein Recht auf den bequemsten Weg könne aus den Grundsätzen zum Notwegerecht nicht abgeleitet werden.

Gehbehinderung unerheblich

Auch der Umstand, dass der klagende Ehemann unter einer Gehbehinderung leidet, führt nach Auffassung des LG zu keinem anderen Ergebnis. Denn für ein Notwegerecht seien allein die objektiven Begebenheiten maßgeblich. Auch eine verbindliche Vereinbarung der Nachbarn oder ein Gewohnheitsrecht sah die Kammer nicht als erwiesen an.

Das Urteil ist rechtskräftig.

Quelle: LG Frankenthal (Pfalz), Urteil vom 30.11.2022, 6 O 187/22, PM vom 27.3.2023

Gesetzliche Krankenversicherung: Kostenübernahme für das Einfrieren von Samenzellen erst ab Erlass der Kryo-Richtlinie 2021

Die gesetzliche Krankenversicherung muss erst ab Erlass der sog. Kryo-Richtlinie 2021 die Kosten für das Einfrieren von Samenzellen übernehmen. So entschied es das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen.

Zeugungsunfähigkeit drohte Mann ließ Samenzellen einfrieren

Ein 35-jähriger Mann bekam Ende 2019 die Diagnose Hodenkrebs. Unverzüglich ließ er den Tumor entfernen. Da seine Zeugungsfähigkeit durch Operation und Chemotherapie gefährdet war und er sich Kinder wünschte, empfahlen ihm die behandelnden Ärzte im Vorfeld eine Kryokonservierung von Samenzellen. Seinen Antrag auf Kostenübernahme für die Entnahme und Konservierung der Spermien lehnte die Krankenkasse ab. Das wollte der Mann nicht hinnehmen und klagte.

Klage in zweiter Instanz abgewiesen

Anders als die erste Instanz hat das LSG eine Leistungspflicht der Gesetzlichen Krankenversicherung verneint. Ein Leistungsanspruch gegen die Krankenkasse bestehe nicht bereits mit Erlass einer neuen Anspruchsnorm durch den Gesetzgeber, da diese erst in Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses zu Voraussetzungen, Art und Umfang der einzelnen Maßnahmen ausgestaltet werden müsse. Vor Erlass einer entsprechenden Richtlinie fehlten wesentliche Aussagen über die Voraussetzungen einer Kryokonservierung als Sachleistung durch die Gesetzliche Krankenversicherung.

Der gesetzliche Leistungsanspruch verdichte sich erst mit Erlass der Richtlinie zu einem durchsetzbaren Einzelanspruch. Angesichts des ausdrücklichen Verweises im Gesetz sei klar ersichtlich, dass es zur Umsetzung der Norm noch weiterer Schritte in Form der Kryo-Richtline bedurfte.

Quelle: LSG Niedersachsen-Bremen, Urteil vom 14.10.2022, L 16 KR 256/21

Bundessozialgericht: Gehunfähigkeit ist maßgeblich für die Nutzung von Behindertenparkplätzen

Das Bundessozialgericht (BSG) hat jetzt entschieden: Für die Zuerkennung des Merkzeichens „außergewöhnliche Gehbehinderung“ (aG) und damit für die Nutzung von Behindertenparkplätzen ist die Gehfähigkeit im öffentlichen Verkehrsraum maßgeblich. Kann der schwerbehinderte Mensch sich dort dauernd nur mit fremder Hilfe oder mit großer Anstrengung außerhalb seines Kraftfahrzeuges bewegen, steht ihm das Merkzeichen aG zu (wenn auch die weiteren Voraussetzungen erfüllt sind). Eine bessere Gehfähigkeit in anderen Lebenslagen, etwa unter idealen räumlichen Bedingungen oder allein in vertrauter Umgebung und Situation, ist für dessen Zuerkennung grundsätzlich ohne Bedeutung.

Fortschreitender Muskelschwund

In dem einen Verfahren leidet der Kläger u. a. an fortschreitendem Muskelschwund mit Verlust von Gang- und Standstabilität. Zwar ist ihm das Gehen auf einem Krankenhausflur möglich. Eine freie Gehfähigkeit ohne Selbstverletzungsgefahr im öffentlichen Verkehrsraum mit Bordsteinkanten, abfallenden oder ansteigenden Wegen und Bodenunebenheiten besteht aber nicht mehr. Das BSG hat in diesem Fall die erste Voraussetzung für das Merkzeichen aG, eine erhebliche mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung, als erfüllt angesehen. Da es nicht abschließend entscheiden konnte, ob auch die zweite Voraussetzung erfüllt ist, wonach gerade die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung einem Grad der Behinderung von 80 entsprechen muss, wurde der Rechtsstreit an das Landessozialgericht (LSG) zurückverwiesen.

Globale Entwicklungsstörung

Im zweiten Verfahren konnte der Kläger infolge einer globalen Entwicklungsstörung nur in vertrauten Situationen im schulischen oder häuslichen Bereich frei gehen, nicht jedoch in unbekannter Umgebung. Das BSG hat entschieden, dass dem Kläger das Merkzeichen aG zusteht. Der auf volle, wirksame und gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Leben in die Gesellschaft gerichtete Sinn und Zweck des Schwerbehindertenrechts umfasst gerade auch das Aufsuchen veränderlicher und vollkommen unbekannter Einrichtungen des sozialen, kulturellen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens. Die Gehfähigkeit ausschließlich in einer vertrauten Umgebung steht der Zuerkennung des Merkzeichens aG nicht entgegen. Die mobilitätsbezogene Teilhabebeeinträchtigung des Klägers entspricht auch einem GdB von 80.

Quelle: BSG, Urteile vom 9.3.2023, B 9 SB 1/22 R und B 9 SB 8/21 R, PM 9/23

Eilverfahren: Ehrverletzung durch herabwürdigenden Tweet

Das Landgericht (LG) Frankfurt am Main hat entschieden: Betroffene können von Twitter verlangen, dass falsche oder ehrverletzende Tweets über sie gelöscht werden. Auch sinngemäße Kommentare mit identischem Äußerungskern muss Twitter entfernen, sobald das Unternehmen von der konkreten Persönlichkeitsrechtsverletzung Kenntnis erlangt.

Das war geschehen

Im September 2022 erschienen auf Twitter diverse Kommentare, in denen wahrheitswidrig behauptet wurde, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg habe „eine Nähe zur Pädophilie“ und er habe „einen Seitensprung gemacht“. Außerdem wurde über ihn verbreitet, er sei in „antisemitische Skandale“ verstrickt und „Teil eines antisemitischen Packs“.

Landgericht: Behauptungen ehrenrührig und unwahr

Das LG stellte in einem Eilverfahren fest, dass diese ehrenrührigen Behauptungen unwahr sind. Die Bezeichnung als Antisemit sei zwar zunächst eine Meinungsäußerung. Sie sei aber jedenfalls in dem gewählten Kontext rechtswidrig, denn sie trage nicht zur öffentlichen Meinungsbildung bei und ziele erkennbar darauf ab, in emotionalisierender Form Stimmung gegen den Antisemitismusbeauftragten zu machen.

Auch sinngleiche Kommentare sind untersagt

Nachdem der Antisemitismusbeauftragte die Entfernung dieser Kommentare verlangt hat, hätte Twitter ihre Verbreitung unverzüglich unterlassen und einstellen müssen. Darüber hinaus entschied das LG: „Das Unterlassungsgebot greift nicht nur dann, wenn eine Äußerung wortgleich wiederholt wird, sondern auch, wenn die darin enthaltenen Mitteilungen sinngemäß erneut veröffentlicht werden.“ Und weiter: „Die Äußerungen werden nicht in jeglichem Kontext untersagt. Betroffen sind nur solche Kommentare, die als gleichwertig anzusehen sind und die trotz gewisser Abweichungen einen identischen Äußerungskern aufweisen.“

Kein allgemeines Monitoring, sondern konkrete Prüfpflicht seitens Twitter

Twitter werde damit auch keine allgemeine Monitoring-Pflicht im Hinblick auf seine rund 237 Mio. Nutzer auferlegt. Eine Prüfpflicht bestehe nämlich nur hinsichtlich der konkret beanstandeten Persönlichkeitsrechtsverletzung. Das deutsche Recht mutet jedem Verpflichteten eines Unterlassungsgebots zu, selbst festzustellen, ob in einer Abwandlung das Charakteristische der konkreten Verletzungsform zum Ausdruck kommt und damit kerngleich ist. Twitter befindet sich damit in keiner anderen Situation, als wenn eine bestimmte Rechtsverletzung gemeldet wird. Auch in diesem Fall muss Twitter prüfen, ob diese Rechtsverletzung eine Löschung bedingt oder nicht, so das LG.

Über Fakten darf hingegen informiert werden

Als zulässig erachtete es indes die Äußerung eines Nutzers, der Antisemitismusbeauftragte des Landes Baden-Württemberg sei in die jährlich vom Wiesenthal-Zentrum in Los Angeles veröffentlichte Liste der größten Antisemiten weltweit aufgenommen worden. Unabhängig davon, ob die Aufnahme in diese Liste gerechtfertigt sei, dürfe darüber informiert werden. Dagegen müsse sich der Antisemitismusbeauftragte im öffentlichen Meinungskampf zur Wehr setzen.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Es kann mit der Berufung zum Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main angefochten werden.

Quelle: LG Frankfurt am Main, 14.12.2022, 2-03 O 325/22, PM vom 14.12.2022

Schadenersatz: Parkhausbetreiber haftet nicht für Schäden infolge Sex auf dem Auto

Der Kläger verlangt von der Beklagten Schadenersatz für die Beschädigung seines Pkw. Er hatte diesen im Parkhaus der Beklagten abgestellt. Die Parteien stritten im Wesentlichen darum, ob die Beklagte während des Einstellzeitraums eine Verkehrssicherungspflicht verletzt hat. Nein, sagt dazu jetzt das Landgericht (LG) Köln.

Während des Einstellzeitraums kamen in der Nacht zwei unbekannte Personen in das Parkhaus und hatten Geschlechtsverkehr auf der Motorhaube des klägerischen Fahrzeugs. Im Anschluss verließen die beiden Personen das Parkhaus, ohne dass deren Identität festgestellt worden wäre. Als der Kläger am nächsten Morgen zu seinem Fahrzeug zurückkehrte, bemerkte er, dass sein Wagen verschiedene Beschädigungen aufwies. Daraufhin nahm er Kontakt zum Wachpersonal des Parkhauses auf, das ihm die Aufnahmen der Überwachungskameras zeigte.

Das Fahrzeug wies mehrere Schäden auf. Der Kläger behauptet, diese seien beim Verlassen des Wagens nicht vorhanden gewesen und daher während der Parkzeit und durch die Handlungen der beiden Unbekannten entstanden. Der Kläger ist der Auffassung, dass es Aufgabe der Beklagten, bzw. ihrer Mitarbeiter gewesen sei, die Videoaufzeichnungen durchgehend zu beobachten und derartige Vorkommnisse zu unterbinden. Wenigstens sei zu erwarten gewesen, dass die Beklagte den Vorgang bemerken und die Polizei rufen würde, damit die Identität der Unbekannten festgestellt werden könnte. Die Beklagte meint, solche Verkehrssicherungspflichten träfen sie nicht.

Das LG: Die Pflichten der Beklagten gehen nicht so weit, dass sie die von ihr installierten Überwachungskameras ununterbrochen beobachten lassen müsste, um etwaige Verstöße gegen die Sicherheit und Ordnung im Parkhaus lückenlos zu bemerken oder gar verhindern zu können. Es ist vielmehr davon auszugehen, dass die Kameras mehr zu repressiven als zu präventiven Zwecken eingesetzt werden. Für den Fall, dass ein Fahrzeughalter bei Rückkehr zu seinem Fahrzeug neue Beschädigungen feststellt, kann er also auf die Beklagte zukommen, diese kann bei den Aufnahmen nachforschen und ggf. bei der Aufklärung des Schadenfalls helfen. Im Normalfall wird dies auch erfolgreich sein, da z. B. bei „Parkremplern“ regelmäßig das Kennzeichen des Unfallgegners zu sehen und die Tat dokumentiert sein dürfte.

Hier, so das LG, dürfte sich die eigentliche Beschädigungshandlung in zeitlich engen Grenzen gehalten haben. Insoweit hat der Kläger angegeben, dass der „relevante Abschnitt“, von dem er die Bildschirmfotos angefertigt hat, die mit der Klageschrift eingereicht wurden, lediglich neun Minuten lang ist. Bei einer solch kurzen Dauer stellt es nach Ansicht des LG keine Verfehlung der Beklagten dar, dass diese Handlungen nicht bemerkt oder gar verhindert wurden.

Quelle: LG Köln, Urteil vom 9.2.2023, 210 O 302/22

Bankrecht: Verwahrentgelte müssen zurückgezahlt werden

Durch AGB erhobene Verwahrentgelte sind unzulässig und führen zu einer Rückzahlungspflicht an den Verbraucher. So hat es das Landgericht (LG) Nürnberg-Fürth entschieden.

Geklagt hatte der Bundesverband der Verbraucherzentralen (vzbv). Die betroffene Bank hatte ab einem Guthaben von 10.000,01 Euro auf einem Girokonto und ab dem ersten Cent auf einem Tagesgeldkonto Verwahrentgelte von 0,5 Prozent p. a. erhoben. Gegen die Klauseln hatte der vzbv geklagt und nach Maßgabe des Unterlassungsklagengesetzes einen Unterlassungsanspruch wegen des Verstoßes gegen die AGB-Regeln des BGB erfolgreich geltend gemacht.

Das Kreditinstitut hat die Entscheidung erwartbar nicht akzeptiert. Es ist in Berufung gegangen.

Quelle: LG Nürnberg-Fürth, Urteil vom 28.10.2022, 7 O 566/21

Tierhalterhaftung: Gebissen, weil sie Hund und Katze trennen wollte …

Der Halter eines Tieres haftet nicht nur für unmittelbar durch das Tier verursachte Verletzungen. Die Tierhalterhaftung erfasst vielmehr auch Fälle, in denen ein Mensch sich aufgrund der vom Tier herbeigeführten Gefahr zu helfendem Eingreifen veranlasst sieht. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat den Halter eines Hundes verurteilt, Schmerzensgeld zu zahlen, da dieser den Kater der Klägerin angegriffen hatte. Beim Versuch, die Tiere zu trennen, stürzte die Klägerin.

Die Klägerin wollte die Tiere trennen

Die Parteien sind Nachbarn. Sie räumten im Januar 2017 gleichzeitig Schnee von ihren Grundstücken. Unter dem Neuschnee hatte sich auf dem klägerischen Grundstück eine vereiste Fläche gebildet. Der Hütehund des Beklagten gelangte während der Räumarbeiten auf das Grundstück der Klägerin. Ob die Klägerin nachfolgend stürzte, da der Hund des Beklagten den Kater der Klägerin angegriffen hatte, ist zwischen den Parteien streitig. Das Landgericht (LG) hatte nach Beweisaufnahme die auf Schmerzensgeld und Feststellung der Einstandspflicht für weitere Schäden gerichtete Klage abgewiesen. Auf die hiergegen gerichtete Berufung der Klägerin stellte das OLG dagegen fest, dass der Klägerin dem Grunde nach ein Anspruch auf Schmerzensgeld und Schadenersatz zustehe.

Tiergefahr hatte sich realisiert

Der Beklagte hafte nach den Grundsätzen der sog. Tiergefahr, begründete das OLG seine Entscheidung. Nach der Beweisaufnahme sei davon auszugehen, dass die Klägerin gestürzt sei, da sich der Hund auf ihren Kater gestürzt und diesen am Kopf gepackt habe. Die Klägerin habe die Tiere mit ihrem Besen trennen wollen. Sowohl die Angaben der Klägerin als auch die des Beklagten deckten diesen Geschehensablauf. Der Beklagte hatte im Rahmen seiner Anhörung klargestellt, dass er lediglich gesehen habe, „dass sein Hund Schläge bezogen habe“. Die Sicht auf das weitere Geschehen sei dagegen verdeckt gewesen. Es spreche nichts dafür, dass die Klägerin den Hund „ohne jeden Grund geschlagen haben sollte“. Die Klägerin habe den Hund vielmehr schon lange gekannt und in der Vergangenheit regelmäßig mit ihm gespielt. Das vom Beklagten berichtete Schlagen lasse sich „ohne Weiteres in Übereinstimmung bringen mit der Schilderung der Klägerin, sie habe versucht, mit dem Besen die Tiere zu trennen“. Die Angaben der Klägerin seien auch von den Zeuginnen bestätigt worden. Aus der ärztlichen Stellungnahme ergebe sich zweifelsfrei, dass die Klägerin in der fraglichen Zeit Verletzungen am Hand- und Kniegelenk erlitten habe.

Hundehalter muss zahlen nur wie viel, steht noch nicht fest

Als Halter des Hundes habe der Beklagte damit für die erlittenen Schäden einzustehen. Die verschuldensunabhängige Haftung des Tierhalters bestehe bereits, wenn eine Verletzung „adäquat kausal auf ein Tierverhalten zurückzuführen ist“. Es komme nicht auf eine unmittelbar durch das Tier bewirkte Verletzung an. Ausreichend sei, „wenn sich ein Mensch durch die von dem Tier herbeigeführte Gefahr zu helfendem Eingreifen veranlasst sieht“, betont das OLG. So liege es hier. Die Klägerin habe sich durch den Angriff des Hundes dazu veranlasst gesehen, dem Kater zur Hilfe zu eilen. Auch wenn es angesichts der winterlichen Verhältnisse aus objektiver Sicht unklug gewesen sei, sich schnell auf die Tiere zuzubewegen, sei es doch eine völlig naheliegende Reaktion gewesen.

Der Höhe nach ist über die erlittenen Verletzungen noch Beweis zu erheben, sodass das OLG zunächst nur die Haftung dem Grunde nach festgestellt hat.

Die Anfechtbarkeit der Entscheidung hängt von der Wertfestsetzung des Revisionsgerichts ab.

Quelle: OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 18.1.2023, 4 U 249/21, PM 6/2