Krankengeldanspruch: Krankenkasse darf bei unverschuldet verspäteter Verlängerung der Krankschreibung Leistung nicht verweigern

Erhält ein Arbeitnehmer ohne eigenes Verschulden erst kurz nach Ablauf einer Krankschreibung eine Verlängerung, hat er weiterhin einen Anspruch auf Krankengeld von seiner Krankenkasse. So sieht es das Bundessozialgericht (BSG).

Das war geschehen

Die Arbeitnehmerin bezog fortlaufend und über das Ende des Beschäftigungsverhältnisses zum 30.4.18 hinaus Krankengeld wegen Arbeitsunfähigkeit, zuletzt ärztlich festgestellt bis voraussichtlich Sonntag, 17.6.18. Zu einer Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit durch wie zuvor ihren Hausarzt am 18.6.18 kam es nicht. Die Arbeitnehmerin suchte ohne vorherige Terminvereinbarung an diesem Tag die Arztpraxis auf und erhielt wegen hohen Patientenaufkommens einen Termin für den 20.6.18, an dem die fortdauernde Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wurde. Die Zahlung von weiterem Krankengeld ab dem 18.6.18 lehnte die Krankenkasse (Beklagte) ab, weil die Fortdauer von Arbeitsunfähigkeit nicht am 18.6., sondern erst am 20.6.18 ärztlich festgestellt worden sei.

Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Krankenkasse unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide, der Arbeitnehmerin im streitigen Zeitraum Krankengeld zu gewähren. Es stellte fest, dass die Mitgliedschaft der Arbeitnehmerin bei der Krankenkasse fortbestehe. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Krankenkasse zurück.

So sieht es das Bundessozialgericht

Die Revision der Krankenkasse vor dem (BSG) war erfolglos. Die Vorinstanzen entschieden zutreffend, dass die Mitgliedschaft der Arbeitnehmerin bei der Krankenkasse über den 17.6.18 hinaus erhalten geblieben sei. Sie könne weiteres Krankengeld bis zum 11.9.18 beanspruchen.

Zwar sei keine erneute ärztliche Arbeitsunfähigkeit(AU)-Feststellung am 18.6.18, sondern erst am 20.6.18 erfolgt. Das Fehlen einer lückenlosen, für die weitere Bewilligung von Krankengeld nötigen AU-Feststellung habe damit an sich die nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V aufrechterhaltene Pflichtmitgliedschaft und den Krankenversicherungsschutz mit Anspruch auf Krankengeld ab dem 18.6.18 beendet. Grundsätzlich müsse der Versicherte dafür sorgen, dass eine rechtzeitige ärztliche AU-Feststellung erfolge. Insoweit seien in der BSG-Rechtsprechung aber enge Ausnahmen anerkannt worden, bei deren Vorliegen der Versicherte so zu behandeln sei, als hätte er von dem aufgesuchten Arzt rechtzeitig die ärztliche Feststellung der AU erhalten.

Bemühen des Patienten muss rechtzeitig erfolgen

Einem „rechtzeitig“ erfolgten persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit stehe es danach gleich, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan habe. Er müsse rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden beziehungsweise -erhaltenden zeitlichen Grenzen versuchen, eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erhalten. Dies gelte auch, wenn es zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt aus den dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach Wegfall dieser Gründe gekommen sei. Ob dem so ist, erfordere eine wertende Betrachtung der Risiko- und Verantwortungsbereiche des Versicherten, des Arztes und der Krankenkasse. In diese würden verfassungsrechtliche Vorgaben mit einfließen.

Mit dem persönlichen Aufsuchen in der Praxis am 18.6.18 habe die Arbeitnehmerin rechtzeitig versucht, eine ärztliche Feststellung von AU wegen derselben Krankheit zu erlangen. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass sie nicht darauf vertrauen durfte, noch am 18.6.18 eine ärztliche AU-Folgefeststellung zu erhalten, habe das LSG nicht festgestellt und seien auch für das BSG nicht ersichtlich. Dass es nicht an diesem Tag zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt gekommen sei, sei maßgeblich nicht der Arbeitnehmerin zuzurechnen, sondern dem Vertragsarzt und der Krankenkasse. Denn das vom Vertragsarzt angeleitete Praxispersonal habe ihr trotz Schilderung ihres Anliegens wegen hohen Patientenaufkommens einen Termin erst für den 20.6.18 gegeben, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt worden sei.

Patient darf Arztpraxis ohne Termin am ersten Tag nach AU-Ende aufsuchen

Fazit: Der Anspruch auf weiteres Krankengeld bleibt also durch rechtzeitiges Tätigwerden durch den Arbeitnehmer auch bestehen, wenn er ohne zuvor vereinbarten Termin am ersten Tag nach Ablauf einer zuvor festgestellten Arbeitsunfähigkeit die Arztpraxis zur normalen Öffnungszeit persönlich aufsucht, um wegen derselben Krankheit eine Arbeitsunfähigkeits-Folgefeststellung zu erlangen.

Quelle: BSG, Urteil vom 21.9.2023, B 3 KR 11/22 R

Haftung: Private Bergtour: Ersatzansprüche gegen Reiseführer Frage des Einzelfalls

Eine rein private gemeinsame Freizeitveranstaltung, z. B. eine privat durchgeführte gemeinsame Bergtour, ist für sich genommen nicht geeignet, eine vertragliche Haftung zu begründen. So sieht es das Landgericht (LG) München.

Der Entscheidung lag der Fall zugrunde, dass sich zwei befreundete Wanderer auf eine gemeinsame Tour begeben hatten. Der erfahrenere Wanderer führte beide. Sie kamen dann in eine Situation, in der der unerfahrene Wanderer nur noch mit einem Hubschrauber befreit werden konnte. Die Kosten für den befreienden Transport betrugen 8.500 Euro.

Den Erstattungsanspruch gegen den erfahrenen und führenden Wanderer verneinte das LG. Es habe sich nur um eine alltägliche Gefälligkeit gehandelt, bei der erkennbar kein Haftungswille bestehe. Es habe sich um eine Gefahrengemeinschaft gehandelt. Der erfahrene Wanderer habe hierbei keine Gefahrenverantwortung übernommen. Eine Haftungsübernahmeerklärung lag insoweit nicht vor.

Quelle: LG München I, Urteil vom 24.10.2023, 27 O 3674/23

Reisepreisminderung: Reisender muss sich über typische Witterungsbedingungen am Zielort selbst informieren

Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat klargestellt: Ein Reisender muss sich selbst über allgemein zugängliche Quellen über die klimatischen Bedingungen des Reiseziels informieren. Den Reiseveranstalter trifft keine Aufklärungspflicht, da kein sogenanntes Wissensgefälle vorliegt.

Das war geschehen

Die Klägerin buchte bei der Beklagten für sich und ihren Partner eine exklusive Ecuador-Privatrundreise für Mitte bis Ende Dezember 2021 für rund 18.000 Euro. Wegen zahlreicher behaupteter Mängel u.a. witterungsbedingter Beeinträchtigungen, eines ausgefallenen Ausflugs und Lärmbelästigungen verlangt sie nun Minderung des Reisepreises in Höhe von gut 6.000 Euro von der Beklagten. Das Landgericht (LG) hatte der Klage in Höhe von gut 800 Euro u.a. wegen eines ausgefallenen Ausflugs und der erlittenen Lärmbelästigungen stattgegeben und Ansprüche wegen witterungsbedingter Beeinträchtigungen abgewiesen.

So entschieden die Instanzen

Die hiergegen gerichtete Berufung hatte auch vor dem OLG keinen Erfolg. Das LG hatte zu Recht Ansprüche wegen witterungsbedingter Sichtbeeinträchtigungen auf ihrer Ecuadorreise verneint, betonte das OLG. Der Veranstalter einer Reise hafte grundsätzlich nicht für „die im Zielgebiet herrschenden Wetterverhältnisse und klimatischen Gegebenheiten“.

Übliche Witterung im Dezember

Die Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, die Klägerin vor Abschluss des Reisevertrags über die im Reisemonat Dezember in Ecuador üblicherweise zu erwartenden Witterungsbeeinträchtigungen aufzuklären und auf Regenzeiten hinzuweisen. Eine gesteigerte Informationspflicht eines Reiseveranstalters bestehe nur hinsichtlich der Umstände, bei denen der Reisende über ein Informationsdefizit verfügt. Vorliegend habe sich die Klägerin indes ohne Weiteres über das Internet über die klimatischen Besonderheiten am Urlaubsort informieren können. Das Internet biete dem Reisenden umfangreiche, aktuelle und unentgeltliche Informationen unabhängig vom typischerweise erst nach der Entscheidung für ein Zielgebiet erfolgten Erwerb eines Reiseführers. Bereits bei einer einfachen Recherche im Internet sei ersichtlich, dass der Monat Dezember sowohl im Andenhochland als auch im Amazonasgebiet als regenreich gelte und damit Sichtbeeinträchtigungen aufgrund von Regen und Nebel allgemein zu erwarten gewesen seien. Hier habe sich damit ein allgemeines Umwelt- bzw. Umfeldrisiko verwirklicht.

Auch hoher Preis rechtfertigt keine besondere Beratungspflicht

Der Umstand, dass es sich um eine recht hochpreisige Reise gehandelt habe, führe nicht zu einer besonderen Beratungspflicht. Maßgeblich für den Reisepreis sei vielmehr die Ausgestaltung als exklusive Privatreise mit Gabelflug gewesen.

Soweit den Reiseveranstalter eine Hinweispflicht treffen könne, wenn sich für die Reisezeit eine atypische, unvorhergesehene Wetterlage abzeichne, mache die Klägerin diese Voraussetzungen hier nicht geltend.

Die Reisebeschreibung enthalte schließlich auch keinerlei Aussagen zur Umgebung, Landschaft oder Tierwelt, die die Klägerin witterungsbedingt nicht wahrzunehmen vermocht habe.

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Quelle: OLG Frankfurt am Main, Hinweisbeschluss vom 13.6.2023 sowie Beschluss vom 28.8.2023, 16 U 54/23, PM 55/23

Grundsicherung: Sozialwohnung: Jobcenter muss Mietkosten anerkennen

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat entschieden: Bei der Beurteilung der Frage, in welcher Höhe Mietkosten von den Jobcentern zu übernehmen sind, muss ein Vergleich mit den Mieten für Sozialwohnungen erfolgen. Mietpreise, die für nach dem Recht des sozialen Wohnungsbaus geförderte Wohnungen gezahlt werden, könnten nicht als unangemessen angesehen werden.

Damit hat es der gegen das zuständige Berliner Jobcenter gerichteten Klage einer Empfängerin von Grundsicherungsleistungen („Hartz IV“, jetzt Bürgergeld) insoweit stattgegeben.

Das war geschehen

Es ging um Zeiträume in den Jahren 2015/2016. Die allein lebende Frau verlangte die Übernahme der vollen Kosten für Miete und Heizung in Höhe von damals rund 640 Euro für ihre 90 m² große Dreizimmerwohnung. Die Suche nach einer günstigeren Wohnung im angespannten Berliner Wohnungsmarkt sei aussichtslos gewesen.

Das Jobcenter hatte insgesamt nur rund 480 Euro für angemessenen gehalten. Dabei bezog es sich auf die Ausführungsvorschriften der zuständigen Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, die die Grenze der Angemessenheit aus den durchschnittlichen Mietkosten ableitet, wie sie der Mietspiegel für Berlin für einfache Wohnlagen ausweist.

Jobcenter in die Schranken gewiesen

Das LSG hält dieses Vorgehen für unzulässig. Die so berücksichtigten Wohnungen erfassten nur den durchschnittlichen Fall der Angemessenheit, nicht aber deren „obere Grenze“. Zwar könnten Empfänger von Leistungen der Jobcenter auf solche Wohnungen verwiesen werden, die lediglich einfache Bedürfnisse für eine sichere Unterkunft befriedigen. Wohnungen zum noch als angemessen angesehenen Mietpreis müssten jedoch auch tatsächlich für Leistungsberechtigte zur Verfügung stehen.

Berliner Wohnungsmangel

Dies sei hier nicht der Fall und ergebe sich auch aus einer statistischen Auswertung des Wohnraumbedarfsberichts der Senatsverwaltung aus dem Jahr 2019. Demnach habe es in Berlin 76.000 Haushalte (darunter 33.000 Einpersonenhaushalte) gegeben, die Leistungen der Grundsicherung bezogen hätten, deren Mietkosten jedoch über den von den Jobcentern herangezogenen Grenzwerten gelegen hätten. Zugleich weise der genannte Bericht eine massive Angebotslücke von 345.000 Wohnungen allein im Bereich der Wohnungen für Einpersonenhaushalte aus.

Auch Sozialwohnungen unangemessen teuer

In einer solchen Situation könne das Gericht keinen Grenzwert bestimmen. Im vorliegenden Fall lasse sich bei einem Vergleich mit den Mieten für Sozialwohnungen, die gerade für Grundsicherungsempfänger als angemessener Wohnraum bereitgestellt werden sollen, feststellen, dass die Wohnung der Frau noch angemessen gewesen sei. Die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ggf. als Höchstgrenze heranzuziehenden Werte (110 Prozent der Tabelle nach § 12 Wohngeldgesetz) seien für Berliner Verhältnisse ungeeignet, weil danach selbst viele Sozialwohnungen als unangemessen teuer angesehen werden müssten.

Quelle: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30.3.2023, L 32 AS 1888/17, PM vom 4.4.2023

Unfallkasse: Elternbeirat bei Sägearbeiten für Weihnachtsbasar unfallversichert

Ein ehrenamtliches Mitglied des Elternbeirats einer kommunalen Kindertagesstätte ist beim Zuschneiden von Baumscheiben für den Weihnachtsbasar der Einrichtung unfallversichert, auch wenn die Sägearbeiten auf seinem Privatgrundstück stattfinden. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden.

Bei Elternarbeit im eigenen Privatgarten verletzt

Der Kläger war Mitglied des Elternbeirats einer kommunalen Kindertagesstätte. Im Jahr 2017 sollte der Kläger für den jährlichen Weihnachtsmarkt der Kindertagesstätte Baumscheiben zurechtschneiden, um diese auf dem Basar des Weihnachtsmarktes zu verkaufen. Dabei schnitt der Kläger auf seinem Privatgrundstück die Baumscheiben zu. Seine linke Hand geriet in die Kreissäge, woraufhin er Mittel- und Ringfinger verlor.

Bundessozialgericht: Arbeitsunfall

Anders als die beklagte Unfallkasse und die Vorinstanzen hat das BSG das Ereignis als Arbeitsunfall anerkannt. Der Kläger war im Unfallzeitpunkt als Mitglied des Elternbeirats innerhalb der gesetzlichen Aufgabenkreise der Gemeinde als Trägerin der Kindertagesstätte und des Elternbeirats ehrenamtlich tätig. Kindertagesstätte und Elternbeirat hatten ihm zudem die unfallbringenden Sägearbeiten konkret übertragen.

Fehlende Einwirkungsmöglichkeiten auf dem Privatgrundstück des Klägers sind insoweit ohne Belang. Der Versicherungsschutz erstreckt sich ohne zeitliche oder räumliche Begrenzung auf ehrenamtliche Tätigkeiten „für“ die Einrichtung.

Quelle: BSG, Urteil vom 5.12.2023, B 2 U 10/21 R, PM 40/23

Immobilienkauf: Begriff „Wohnung“ beinhaltet keine Beschaffenheitsgarantie für die baurechtliche Unbedenklichkeit

Allein die Bezeichnung des Kaufgegenstands als „Wohnung“ beinhaltet nicht die Beschaffenheitsgarantie des Verkäufers für die baurechtliche Unbedenklichkeit des Kaufgegenstands. Vereinbaren die Parteien einen Haftungsausschluss, kann damit nicht die Rückabwicklung des Kaufvertrags wegen einer fehlenden Baugenehmigung begehrt werden. Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main wies mit seiner Entscheidung die Berufung der Käuferin gegen ein ihre Ansprüche zurückweisendes Urteil des Landgerichts (LG) zurück.

Rücktritt wegen fehlender Baugenehmigung?

Die Klägerin kaufte von der Beklagten für 330.000 Euro eine Wohnung. Laut Kaufvertrag erwarb sie u.a. das Sondereigentum „an der Wohnung (es folgte die Adresse)“. Der Kauf erfolgte wie besichtigt. Die Parteien schlossen jegliche Sachmängelhaftung aus. Nachdem die Klägerin erfahren hatte, dass keine Baugenehmigung vorliegt, hat sie u.a. die Rückzahlung des Kaufpreises gegen Rückübertragung des Wohnungseigentums verlangt.

Freiwilliger Verzicht auf Gewährleistungsrechte

Das LG hatte die Klage abgewiesen. Die hiergegen gerichtete Berufung hatte auch vor dem OLG keinen Erfolg. Die Klägerin könne den Kaufpreis unabhängig vom Sachmangel der fehlenden Baugenehmigung nicht zurückverlangen, da die Parteien zulässig einen Haftungsausschluss vereinbart hätten, bestätigte das OLG die angefochtene Entscheidung. Die Klägerin habe damit freiwillig auf ihre Gewährleistungsrechte im Hinblick auf die gekaufte Wohnung verzichtet.

Der Haftungsausschluss greife hier auch wirksam ein. Insbesondere liege kein einem solchen Ausschluss entgegenstehendes arglistiges Verhalten des Beklagten vor. Der Beklagte habe vorgetragen, selbst 14 Jahre in der Wohnung gewohnt und von der fehlenden Baugenehmigung keine Kenntnis gehabt zu haben. Gegenteiliges habe die Klägerin nicht beweisen können. Ihm könne mangels eigener Beteiligung am Bau/Umbau auch nicht vorgeworfen werden, dass sich ihm die fehlende Baugenehmigung hätte aufdrängen müssen.

Keine Beschaffenheitsgarantie

Dem Haftungsausschluss stehe auch keine Beschaffenheitsgarantie des Beklagten entgegen. Der Beklagte habe keine vorbehaltlose, verschuldensunabhängige und intensivierte Einstandsflicht für die baurechtliche Unbedenklichkeit der Wohnung übernehmen wollen. Insbesondere könne „in der Bezeichnung „Wohnung“ im Kaufvertrag (…) nach den (…) anzulegenden strengen Maßstäben keine Beschaffenheitsgarantie gesehen werden, sondern nur eine übliche Bezeichnung für den Kaufgegenstand“, führte das OLG weiter aus. Der Begriff bezeichne den rein tatsächlichen Zustand der Räumlichkeiten, seine tatsächliche Verwendung und vergangene Nutzung zu Wohnzwecken, vertiefte der Senat. Ein von der Klägerin behaupteter weitreichender Haftungswille des Beklagten könne dagegen nicht allein auf das Wort „Wohnung“ gestützt werden.

Die Entscheidung ist nicht rechtskräftig. Die Klägerin kann mit der Nichtzulassungsbeschwerde die Zulassung der Revision begehren.

Quelle: OLG Frankfurt am Main, Hinweisbeschluss vom 19.10.2023 i.V.m. Beschluss vom 31.10.2023, 6 U 210/22, PM vom 9.11.2023

Ordnungswidrigkeitsverfahren: „Wildpinkeln“ kann auch erlaubt sein

Ein Mann urinierte nachts an der Ostsee ins Meer. Dies bemerkten drei Mitarbeiter des Ordnungsamts. Der Mann sollte dann 60 Euro als Geldbuße zahlen wegen „Belästigung der Allgemeinheit“ durch eine „grob ungehörige Handlung“. Die Sache ging vor Gericht, weil er sich weigerte, zu zahlen. Das AG Lübeck gab ihm nun Recht.

Lag eine Ordnungswidrigkeit vor?

Das AG Lübeck prüfte die einschlägige Norm des Ordnungswidrigkeitengesetzes, gegen die der Mann verstoßen haben sollte (hier: § 118 OWiG). Aber weder eine Verletzung des Schamgefühls der Öffentlichkeit (weder im Hinblick auf Männer noch auf Frauen) noch den Vorwurf etwaiger Verschmutzungen oder Gerüche ließ das Gericht gelten.

Schamgefühl nicht verletzt

Das Schamgefühl der Öffentlichkeit sah das Gericht nicht als verletzt an und verwies auf öffentliche Toiletten für Männer, wo an „durchgehenden Pissoirs“ oder „Rinnen“ oft „geselliges Wasserlassen“ stattfinde. So sei es auch bei Urinieren unter freiem Himmel. Auch Wanderer, Arbeiter in Feld und Flur, Jäger und Freiluftsportler urinierten gelegentlich in die Landschaft.

Ostsee nicht verunreinigt

Verunreinigungen oder Geruchsbelästigungen hielt das LG angesichts der Größe der Ostsee für ausgeschlossen. Der letzte Satz des Urteils klingt schon beinahe romantisch: „Der Mensch hat unter den Weiten des Himmelszeltes nicht mindere Rechte als das Reh im Wald, der Hase auf dem Feld oder die Robbe im Spülsaum der Ostsee.“

Quelle: AG Lübeck, Urteil vom 29.6.2023, 83a OWi 739 Js 4140/23 jug

Angemessenheitsgrenze: Jobcenter muss bei marktengem Wohnraum unter Umständen draufzahlen

Das Landessozialgericht (LSG) Niedersachsen-Bremen hat entschieden: Das Jobcenter muss bei besonders schwer verfügbaren, behindertengerechten Wohnungen auch Kosten oberhalb der Angemessenheitsgrenze übernehmen.

Das war geschehen

Zugrunde lag das Eilverfahren einer alleinstehenden Frau (geb. 1976) aus Bremen. Sie hat fünf Kinder im Alter von 9 bis 22 Jahren. Der älteste Sohn ist schwerbehindert und auf einen Rollstuhl angewiesen. Bisher lebt die Familie in einer 83 m² großen Vier-Zimmer-Wohnung im 1. Obergeschoss eines Mehrfamilienhauses. Um die Wohnung zu verlassen, muss der Sohn durch das Treppenhaus getragen werden.

Zentrale Fachstelle Wohnen: „ja“ Jobcenter: „nein“

Nach langer Suche fand die Familie schließlich eine barrierefreie Wohnung in passender Größe. Die Zentrale Fachstelle Wohnen befürwortete die Anmietung. Das Jobcenter Bremen lehnte eine Zusicherung der Mietübernahme jedoch ab, da die Miete auch nach einem Preisnachlass (1.425,60 Euro) immer noch über der Angemessenheitsgrenze (1.353 Euro) lag. Außerdem verwies es darauf, dass die Mutter in der Vergangenheit eine andere geeignete Wohnung abgelehnt habe.

Familiäre Besonderheiten durch große Personenzahl und schwerbehinderten Sohn

Das LSG hat das Jobcenter zur Erteilung der Zusicherung verpflichtet. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass die höheren Kosten aufgrund der familiären Besonderheiten nicht unangemessen seien. Der Zugang zum Wohnungsmarkt sei für Menschen mit Behinderung ohnehin erschwert. Hinzu komme das geringe Angebot für größere Personenzahlen.

Die Chancen einer sechsköpfigen Familie, künftig eine andere rollstuhlgerechte Wohnung zu finden, seien damit sehr gering dies habe die Zentrale Fachstelle Wohnen ausdrücklich bestätigt. Ferner müsse der schwerbehinderte Sohn nicht deshalb in einer ungeeigneten Wohnung bleiben, weil seine Mutter es in der Vergangenheit ggf. an ausreichenden Bemühungen bei der Wohnungssuche habe fehlen lassen.

Quelle: LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 13.10.2023, L 13 AS 185/23 B ER, PM vom 23.10.2023

Vorfälligkeitsentschädigung: Darlehensrückführung: Pauschalierter Institutsaufwand unzulässig

Die von einer Bank verwendete Software integrierte bei der vorzeitigen Rückführung eines Verbraucherimmobiliar-Darlehens in die Berechnung der Vorfälligkeitsentschädigung einen pauschalierten sog. Institutsaufwand in Höhe von 300 Euro. Dies ist unzulässig, sofern dem Verbraucher nicht ausdrücklich der Nachweis eines geringeren oder vollständig entfallenden Schadens möglich ist, entschied das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main.

Ein Bankkunde nahm die Bank auf Unterlassen der Berechnung eines pauschalierten sog. Institutsaufwands von 300 Euro in Anspruch. Er hatte bereits 2017 in einem Verfahren vor dem Landgericht (LG) erstritten, dass die Bank bei der vorzeitigen Rückzahlung eines Darlehens nicht pauschal einen in ihrem Preis- und Leistungsverzeichnis ausgewiesenen „Verwaltungsaufwand“ in dieser Höhe verlangen kann. Das LG hatte die neuerliche Klage des Bankkunden jedoch abgewiesen.

Die hiergegen gerichtete Berufung hatte vor dem OLG Erfolg. Die Bank könne nicht pauschal den o. g. Aufwand verlangen. Das Berechnen dieser Position halte einer Inhaltskontrolle am Maßstab Allgemeiner Geschäftsbedingungen (AGB) nicht stand. Die Bank-Software, die einen solchen Institutsaufwand in die Abrechnungen automatisch integriere, stehe einer bankinternen Anweisung gleich. Sie entspreche damit in ihrer Wirkung einer AGB und unterliege der Inhaltskontrolle. AGB seien nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (hier: § 309 Nr. 5b BGB) unwirksam, wenn der Verwender einen pauschalen Schadenersatzanspruch erlange, ohne dass der Nachweis eines tatsächlich niedrigeren oder entfallenden Schadens möglich ist. So sei es hier. Der hier in Rechnung gestellte pauschale Aufwand für die vorzeitige Darlehensrückführung von 300 Euro könne nur verlangt werden, wenn dem Verbraucher ausdrücklich der Nachweis eines geringeren oder entfallenden Schadens seitens der Bank gestattet wäre.

Quelle: OLG Frankfurt am Main, Urteil vom 4.10.2023, 17 U 214/22, PM 61/23

Masernschutzimpfung: Anordnung einer ärztlichen Untersuchung rechtmäßig

Bei berechtigten Zweifeln an der inhaltlichen Richtigkeit eines ärztlichen Zeugnisses, mit dem einem Schüler das Bestehen medizinischer Kontraindikationen gegen die Masernimpfung attestiert wird, kann das Gesundheitsamt zur Überprüfung eine ärztliche Untersuchung anordnen. Das hat das Verwaltungsgericht (VG) Düsseldorf entschieden.

Die Entscheidung des Gesundheitsamts, zur Überprüfung der medizinischen Kontraindikation gegen die Masernimpfung eine ärztliche Untersuchung des Schülers anzuordnen, sei rechtlich nicht zu beanstanden, so das VG. Zu Recht hatte das Gesundheitsamt Zweifel an der inhaltlichen Richtigkeit des von den Eltern des siebenjährigen Schülers vorgelegten ärztlichen Attests. Darin war auf einem Vordruck bescheinigt worden, dass der Schüler aufgrund medizinischer Kontraindikation ab sofort und zeitlich unbegrenzt für jede Art von Impfungen freizustellen sei.

Allerdings so das VG kann die ärztliche Untersuchung nicht mit Zwangsmitteln durchgesetzt werden. Vielmehr ist nach der gesetzlichen Gesamtkonzeption zum Masernschutz die Anordnung eines Betretensverbots die einzig zulässige Rechtsfolge, wenn der Untersuchungsanordnung nicht Folge geleistet wird.

Dem stehe auch nicht entgegen, dass dem Schüler wegen der Schulpflicht nicht untersagt werden kann, die Schule zum Zwecke des Unterrichts zu betreten. Denn die Angebote der offenen Ganztagsbetreuung oder außerschulische Veranstaltungen sind hiervon ausgenommen.

Quelle: VG Düsseldorf, Beschluss vom 15.11.2023, 29 L 2480/23, PM vom 17.11.2023