Fluggastrechte: Muss der Reisende trotz vorheriger Beförderungsverweigerung erscheinen?

Ein ausführendes Luftfahrtunternehmen, das einen Fluggast im Voraus darüber unterrichtet hat, dass es ihm gegen seinen Willen die Beförderung auf einem Flug verweigern werde, für den er über eine bestätigte Buchung verfügt, muss diesem einen Ausgleich zahlen. Das gilt, selbst, wenn er sich nicht unter den in der Fluggastrechteverordnung (hier: Art. 3 Abs. 2 FluggastrechteVO) genannten Bedingungen am Flugsteig eingefunden hat. So sieht es der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH).

Fluggast ohne Information umgebucht

Der EuGH zeigt sich damit wieder einmal verbraucherfreundlich. Im konkreten Fall hatte die Fluggesellschaft einen Fluggast umgebucht, ihn aber nicht darüber informiert. Auf seine Rückfrage wurde ihm zugleich mitgeteilt, dass er für den gebuchten Rückflug gesperrt sei, weil er zum umgebuchten Flug nicht erschienen sei. Es sei nicht mehr möglich, den Rückflug anzutreten.

Ausgleichsanspruch wegen Nichtbeförderung

Der EuGH hat darüber hinaus entschieden, dass dem Fluggast zwar bei Annullierung eines Flugs u. U. kein Ausgleichsanspruch zusteht. Dies gelte aber nicht, wenn ein Fluggast wie im Fall des EuGH für den Rückflug mindestens zwei Wochen vor der planmäßigen Abflugzeit darüber unterrichtet wurde, dass das ausführende Luftfahrtunternehmen ihn gegen seinen Willen nicht befördern werde. Ihm steht dann ein Ausgleichsanspruch wegen Nichtbeförderung i. S. d. Art. 4 der FluggastrechteVO zu.

Quelle: EuGH, Urteil vom 26.10.2023, C-238/22

Grundrechtsverletzung: Durchsuchung bei einem Lehrer zur Ermittlung seiner Einkommensverhältnisse in einem Strafverfahren

Das Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) hat der Verfassungsbeschwerde eines verbeamteten Lehrers stattgegeben, die sich gegen eine Durchsuchungsanordnung richtete.

Das war geschehen

Gegen den Lehrer wurde wegen des Verdachts der Beleidigung von zwei Polizeibeamten ermittelt. Um Informationen über seine persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse zu erlangen, ordnete das Amtsgericht (AG) an, seine Wohnung zu durchsuchen. Der Lehrer gewährte den die Durchsuchungsanordnung vollziehenden Beamten Eintritt in seine Wohnung und übergab ihnen verschiedene Unterlagen. Das Strafverfahren endete mit einer Einstellung gegen Zahlung einer Geldauflage.

Verletzung von Grundrechten

Die Anordnung der Durchsuchung verletzt den Beschwerdeführer in seinem Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung nach dem Grundgesetz (Art. 13 Abs. 1 GG). Sie war unverhältnismäßig. Angesichts grundrechtsschonender, alternativer Ermittlungshandlungen stand eine Durchsuchung außer Verhältnis zur Schwere der verfolgten Straftat.

Zwar war die Durchsuchung nicht bereits deshalb unzulässig, weil lediglich die Einkommensverhältnisse des Beschwerdeführers ermittelt werden sollten. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft müssen sich nämlich auch auf Umstände beziehen, die für die Bestimmung der Rechtsfolgen der Tat von Bedeutung sind. Dazu zählen die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Beschuldigten zwecks Bestimmung der Tagessatzhöhe.

Lehrer hätte zuerst befragt werden müssen

Naheliegend und grundrechtsschonend wäre es gewesen, zunächst den Beschwerdeführer über seinen Verteidiger zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu befragen. Eine solche Nachfrage hätte im Streitfall mit realistischer Wahrscheinlichkeit dazu geführt, ausreichende Informationen zu seinen persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen zu erlangen. Auch die Gefahr eines Beweismittelverlustes bestand nicht.

Anfrage an Besoldungsstelle als Alternative

Als naheliegende und grundrechtsschonende Alternative zu einer Wohnungsdurchsuchung wäre aber auch eine Anfrage bei der Besoldungsstelle des Beschwerdeführers nach dem von dort bezogenen Einkommen in Betracht gekommen. Durch eine solche Anfrage sind zwar nicht zwingend Informationen zu allen Einkünften zu erlangen. Das Strafgesetzbuch (hier: § 40 Abs. 3 StGB) erfordert aber zumal in Fällen der kleineren Kriminalität auch nicht die Ausschöpfung aller Beweismittel, wenn ansonsten die fachrechtlichen Voraussetzungen für eine Schätzung der Einkünfte vorliegen. Durchsuchungen zur Ermittlung der für die Bestimmung der Tagessatzhöhe entscheidenden persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse eines Beschuldigten sind daher grundsätzlich nur verhältnismäßig, wenn anhand der übrigen zur Verfügung stehenden Beweismittel keine Schätzung möglich ist.

Weitere alternative Anfragen möglich

Hätten sich Staatsanwaltschaft und AG mit den durch die genannten Maßnahmen zu erlangenden Informationen zum Einkommen des Beschwerdeführers nicht begnügen wollen, wären darüber hinaus eine Abfrage bei der Bundesanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht und anschließende Bankanfragen in Betracht gekommen. Auch insoweit handelt es sich im Vergleich zur angeordneten Durchsuchung um eine meist weniger grundrechtsintensive Maßnahme.

Quelle: BVerfG, Beschluss vom 15.11.2023, 1 BvR 52/23, PM 115/23

Kindergeldanspruch: Kein Kindergeld für sich selbst bei telefonischem Kontakt zur Mutter im Ausland

Kindergeld für sich selbst können Kinder nur erhalten, wenn sie Vollwaise sind oder den Aufenthalt der Eltern nicht kennen. Kein Kindergeld beanspruchen kann ein Kind, wenn es gelegentlich mit seiner Mutter im Ausland telefonieren und sich dabei nach ihrem Aufenthaltsort erkundigen kann. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) jetzt entschieden.

Regelmäßige Telefonate

Der Kläger hatte Kindergeld für sich selbst beansprucht mit der Begründung, er kenne den Aufenthalt seiner Mutter nicht. Diese hatte sich Ende 2017 auf die Flucht begeben und zunächst jeweils nur für kurze Dauer an verschiedenen Orten in Syrien gelebt, zuletzt in der Nähe von Damaskus. Allerdings hatte der Kläger in seinem Kindergeldantrag angegeben, zwei- bis dreimal monatlich mit ihr zu telefonieren. Dadurch hatte er zumindest die zumutbare Möglichkeit, sich nach dem aktuellen Aufenthaltsort seiner Mutter zu erkundigen.

Voraussetzungen der Aufenthaltskenntnis

Ein Kind kennt den Aufenthalt seiner Eltern, wenn es weiß, an welchem für ihn bestimmbaren Ort sich seine Eltern oder zumindest ein Elternteil aufhalten. Auf die Kenntnis einer postalischen Adresse oder eines „verstetigten“ Aufenthalts kommt es dagegen nicht an, weil sich seit Einführung des Kindergelds für „alleinstehende Kinder“ im Jahr 1986 die Kommunikationsmöglichkeiten und -gewohnheiten durch Internet und Mobilfunk grundlegend verändert haben. Für die erforderliche Aufenthaltskenntnis genügt es zudem, wenn aus Sicht des Kindes die zumutbare Möglichkeit besteht, innerhalb eines angemessenen Zeitraums Kontakt mit seinen Eltern aufzunehmen. Die Kenntnis fehlt erst, wenn Dauer und Ausmaß der Unkenntnis über den Verbleib der Eltern den endgültigen Verlust der Eltern-Kind-Beziehung wie bei einer Vollwaise befürchten lassen.

Quelle: BSG, Urteil vom 14.12.2023, B 10 KG 1/22 R, PM 46/23

Persönlichkeitsrechtsverletzung: Streit um Kamera auf dem Nachbargrundstück

In einem Nachbarschaftsstreit sah das Amtsgericht (AG) München in dem Aufstellen einer Kamera auf dem Nachbargrundstück eine Persönlichkeitsrechtsverletzung und untersagte dies der Antragsgegnerin.

Überwachungs- oder Wildkamera?

Die Parteien sind unmittelbare Nachbarn in München und stritten über eine im April 2022 auf der Terrasse der Antragsgegnerin aufgestellte Wildüberwachungskamera, die von der Terrasse der Antragstellerin aus sichtbar war. Die Antragstellerin wehrte sich hiergegen unter Verweis auf ihre Persönlichkeitsrechte und forderte die Antragsgegnerin im Juli 2022 u. a. auf, die Videoüberwachung zu beenden und künftig zu unterlassen. Die Antragsgegnerin verweigerte dies mit der Begründung, dass es sich nicht um eine Videoüberwachung, sondern um eine sogenannte Wild-Kamera handeln würde. Es ginge ausschließlich um die Kontrolle des eigenen Gartens.

Kamera musste entfernt werden

Zunächst erließ das AG im einstweiligen Rechtsschutz auf Antrag der Antragstellerin eine einstweilige Verfügung. Danach wurde es dieser untersagt, auf ihrem Grundstück eine Überwachungskamera aufzustellen, die die Terrasse oder den Garten der Antragstellerin erfasst oder erfassen kann oder den Eindruck hiervon erweckt. Anschließend entfernte die Antragsgegnerin die Kamera.

Einstweilige Verfügung war rechtens

Auf Antrag der Antragstellerin bestätigte das AG dann mit einem Urteil die einstweilige Verfügung. Die vormals aufgestellte Kamera habe die Antragstellerin in ihrem Persönlichkeitsrecht verletzt. Dabei kommt es nicht entscheidend darauf an, ob die Kamera tatsächlich ausschließlich den Bereich der Antragsgegnerin erfasst hat oder nicht. Denn es komme insoweit auf die Umstände des Einzelfalls an. Die Befürchtung, durch vorhandene Überwachungsgeräte überwacht zu werden, sei gerechtfertigt, wenn sie aufgrund konkreter Umstände als nachvollziehbar und verständlich erscheint, etwa im Hinblick auf einen eskalierenden Nachbarstreit oder aufgrund objektiv Verdacht erregender Umstände. Lägen solche Umstände vor, könne das Persönlichkeitsrecht des (vermeintlich) Überwachten schon wegen der Verdachtssituation beeinträchtigt sein. Allein die hypothetische Möglichkeit einer Überwachung durch Videokameras und ähnliche Überwachungsgeräte beeinträchtige hingegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht derjenigen nicht, die dadurch betroffen sein könnten.

Hypothetische Möglichkeit der Überwachung ausreichend für Beseitigungsanspruch

Unter Berücksichtigung dieses Maßstabs habe die Antragstellerin einen Anspruch auf Beseitigung der Kamera und entsprechende Unterlassung der etwaigen weiteren Installation einer vergleichbaren Kamera. Nach Ansicht der Lichtbilder sei das Gericht der Überzeugung, dass die Antragstellerin zu der Ansicht gelangen konnte, dass ihr Grundstück von der Kamera erfasst werde. Es handelte sich nicht mehr um die rein hypothetische Möglichkeit der Überwachung.

Der Sachverhalt habe sich zwar mittlerweile maßgeblich verändert, da die Kamera entfernt worden sei. Weiterhin habe die Antragsgegnerin im Rahmen der mündlichen Verhandlung dargelegt, dass sie nicht die Absicht habe, eine weitere Kamera aufzustellen. Dieser Umstand allein kann aber nicht ausreichen, eine Wiederholungsgefahr aufzuheben.

Quelle: AG München, Urteil vom 1.2.2023, 171 C 11188/22, PM 43/23

Versicherungsrecht: Haftpflichtversicherung: Leistungsausschluss bei vorsätzlicher Handlung

Ein Versicherungsnehmer, der nach einer verbalen Auseinandersetzung im Straßenverkehr einem anderen, für ihn erkennbar schwerbeschädigten Verkehrsteilnehmer in den Rücken schlägt und diesen dadurch zu Fall bringt, nimmt regelmäßig dessen schwere Gesundheitsbeschädigung in Kauf. Als Folge kann sich sein Haftpflichtversicherer auf einen Leistungsausschluss berufen. So hat es das Oberlandesgericht (OLG) Dresden entschieden.

Auseinandersetzung im Straßenverkehr

Auseinandersetzungen im Straßenverkehr enden immer häufiger damit, dass ein oder mehrere Beteiligte verletzt werden. Im Gegensatz zur landläufigen Meinung regelt das nicht unbedingt die Haftpflichtversicherung.

Versicherung darf Leistung verweigern

Der Versicherer ist nämlich nach dem Versicherungsvertragsgesetz (hier: § 103 VVG) nicht zur Leistung verpflichtet, wenn der Versicherungsnehmer vorsätzlich und widerrechtlich den bei dem Dritten eingetretenen Schaden herbeigeführt hat.

Einzelfall entscheidend

Ob die Versicherung tatsächlich leistungsfrei ist, entscheidet sich anhand des jeweiligen Einzelfalls. Dazu muss vorgetragen werden, wie sich der Vorfall ereignete und was genau Auslöser der schadenstiftenden Handlung war. Es ist nämlich ein Unterschied, ob es sich um eine Angriffs- oder Verteidigungshandlung handelte.

Quelle: OLG Dresden, Urteil vom 29.6.2023, 4 U 2626/22

Krankengeldanspruch: Krankenkasse darf bei unverschuldet verspäteter Verlängerung der Krankschreibung Leistung nicht verweigern

Erhält ein Arbeitnehmer ohne eigenes Verschulden erst kurz nach Ablauf einer Krankschreibung eine Verlängerung, hat er weiterhin einen Anspruch auf Krankengeld von seiner Krankenkasse. So sieht es das Bundessozialgericht (BSG).

Das war geschehen

Die Arbeitnehmerin bezog fortlaufend und über das Ende des Beschäftigungsverhältnisses zum 30.4.18 hinaus Krankengeld wegen Arbeitsunfähigkeit, zuletzt ärztlich festgestellt bis voraussichtlich Sonntag, 17.6.18. Zu einer Feststellung der weiteren Arbeitsunfähigkeit durch wie zuvor ihren Hausarzt am 18.6.18 kam es nicht. Die Arbeitnehmerin suchte ohne vorherige Terminvereinbarung an diesem Tag die Arztpraxis auf und erhielt wegen hohen Patientenaufkommens einen Termin für den 20.6.18, an dem die fortdauernde Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt wurde. Die Zahlung von weiterem Krankengeld ab dem 18.6.18 lehnte die Krankenkasse (Beklagte) ab, weil die Fortdauer von Arbeitsunfähigkeit nicht am 18.6., sondern erst am 20.6.18 ärztlich festgestellt worden sei.

Das Sozialgericht (SG) verurteilte die Krankenkasse unter Aufhebung der ablehnenden Bescheide, der Arbeitnehmerin im streitigen Zeitraum Krankengeld zu gewähren. Es stellte fest, dass die Mitgliedschaft der Arbeitnehmerin bei der Krankenkasse fortbestehe. Das Landessozialgericht (LSG) wies die Berufung der Krankenkasse zurück.

So sieht es das Bundessozialgericht

Die Revision der Krankenkasse vor dem (BSG) war erfolglos. Die Vorinstanzen entschieden zutreffend, dass die Mitgliedschaft der Arbeitnehmerin bei der Krankenkasse über den 17.6.18 hinaus erhalten geblieben sei. Sie könne weiteres Krankengeld bis zum 11.9.18 beanspruchen.

Zwar sei keine erneute ärztliche Arbeitsunfähigkeit(AU)-Feststellung am 18.6.18, sondern erst am 20.6.18 erfolgt. Das Fehlen einer lückenlosen, für die weitere Bewilligung von Krankengeld nötigen AU-Feststellung habe damit an sich die nach § 192 Abs. 1 Nr. 2 SGB V aufrechterhaltene Pflichtmitgliedschaft und den Krankenversicherungsschutz mit Anspruch auf Krankengeld ab dem 18.6.18 beendet. Grundsätzlich müsse der Versicherte dafür sorgen, dass eine rechtzeitige ärztliche AU-Feststellung erfolge. Insoweit seien in der BSG-Rechtsprechung aber enge Ausnahmen anerkannt worden, bei deren Vorliegen der Versicherte so zu behandeln sei, als hätte er von dem aufgesuchten Arzt rechtzeitig die ärztliche Feststellung der AU erhalten.

Bemühen des Patienten muss rechtzeitig erfolgen

Einem „rechtzeitig“ erfolgten persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt zur Feststellung der Arbeitsunfähigkeit stehe es danach gleich, wenn der Versicherte alles in seiner Macht Stehende und ihm Zumutbare getan habe. Er müsse rechtzeitig innerhalb der anspruchsbegründenden beziehungsweise -erhaltenden zeitlichen Grenzen versuchen, eine ärztliche Feststellung der Arbeitsunfähigkeit als Voraussetzung des Anspruchs auf Krankengeld zu erhalten. Dies gelte auch, wenn es zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt aus den dem Vertragsarzt und der Krankenkasse zurechenbaren Gründen erst verspätet, aber nach Wegfall dieser Gründe gekommen sei. Ob dem so ist, erfordere eine wertende Betrachtung der Risiko- und Verantwortungsbereiche des Versicherten, des Arztes und der Krankenkasse. In diese würden verfassungsrechtliche Vorgaben mit einfließen.

Mit dem persönlichen Aufsuchen in der Praxis am 18.6.18 habe die Arbeitnehmerin rechtzeitig versucht, eine ärztliche Feststellung von AU wegen derselben Krankheit zu erlangen. Tatsächliche Anhaltspunkte dafür, dass sie nicht darauf vertrauen durfte, noch am 18.6.18 eine ärztliche AU-Folgefeststellung zu erhalten, habe das LSG nicht festgestellt und seien auch für das BSG nicht ersichtlich. Dass es nicht an diesem Tag zum persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt gekommen sei, sei maßgeblich nicht der Arbeitnehmerin zuzurechnen, sondern dem Vertragsarzt und der Krankenkasse. Denn das vom Vertragsarzt angeleitete Praxispersonal habe ihr trotz Schilderung ihres Anliegens wegen hohen Patientenaufkommens einen Termin erst für den 20.6.18 gegeben, an dem die weitere Arbeitsunfähigkeit wegen derselben Krankheit ärztlich festgestellt worden sei.

Patient darf Arztpraxis ohne Termin am ersten Tag nach AU-Ende aufsuchen

Fazit: Der Anspruch auf weiteres Krankengeld bleibt also durch rechtzeitiges Tätigwerden durch den Arbeitnehmer auch bestehen, wenn er ohne zuvor vereinbarten Termin am ersten Tag nach Ablauf einer zuvor festgestellten Arbeitsunfähigkeit die Arztpraxis zur normalen Öffnungszeit persönlich aufsucht, um wegen derselben Krankheit eine Arbeitsunfähigkeits-Folgefeststellung zu erlangen.

Quelle: BSG, Urteil vom 21.9.2023, B 3 KR 11/22 R

Haftung: Private Bergtour: Ersatzansprüche gegen Reiseführer Frage des Einzelfalls

Eine rein private gemeinsame Freizeitveranstaltung, z. B. eine privat durchgeführte gemeinsame Bergtour, ist für sich genommen nicht geeignet, eine vertragliche Haftung zu begründen. So sieht es das Landgericht (LG) München.

Der Entscheidung lag der Fall zugrunde, dass sich zwei befreundete Wanderer auf eine gemeinsame Tour begeben hatten. Der erfahrenere Wanderer führte beide. Sie kamen dann in eine Situation, in der der unerfahrene Wanderer nur noch mit einem Hubschrauber befreit werden konnte. Die Kosten für den befreienden Transport betrugen 8.500 Euro.

Den Erstattungsanspruch gegen den erfahrenen und führenden Wanderer verneinte das LG. Es habe sich nur um eine alltägliche Gefälligkeit gehandelt, bei der erkennbar kein Haftungswille bestehe. Es habe sich um eine Gefahrengemeinschaft gehandelt. Der erfahrene Wanderer habe hierbei keine Gefahrenverantwortung übernommen. Eine Haftungsübernahmeerklärung lag insoweit nicht vor.

Quelle: LG München I, Urteil vom 24.10.2023, 27 O 3674/23

Reisepreisminderung: Reisender muss sich über typische Witterungsbedingungen am Zielort selbst informieren

Das Oberlandesgericht (OLG) Frankfurt am Main hat klargestellt: Ein Reisender muss sich selbst über allgemein zugängliche Quellen über die klimatischen Bedingungen des Reiseziels informieren. Den Reiseveranstalter trifft keine Aufklärungspflicht, da kein sogenanntes Wissensgefälle vorliegt.

Das war geschehen

Die Klägerin buchte bei der Beklagten für sich und ihren Partner eine exklusive Ecuador-Privatrundreise für Mitte bis Ende Dezember 2021 für rund 18.000 Euro. Wegen zahlreicher behaupteter Mängel u.a. witterungsbedingter Beeinträchtigungen, eines ausgefallenen Ausflugs und Lärmbelästigungen verlangt sie nun Minderung des Reisepreises in Höhe von gut 6.000 Euro von der Beklagten. Das Landgericht (LG) hatte der Klage in Höhe von gut 800 Euro u.a. wegen eines ausgefallenen Ausflugs und der erlittenen Lärmbelästigungen stattgegeben und Ansprüche wegen witterungsbedingter Beeinträchtigungen abgewiesen.

So entschieden die Instanzen

Die hiergegen gerichtete Berufung hatte auch vor dem OLG keinen Erfolg. Das LG hatte zu Recht Ansprüche wegen witterungsbedingter Sichtbeeinträchtigungen auf ihrer Ecuadorreise verneint, betonte das OLG. Der Veranstalter einer Reise hafte grundsätzlich nicht für „die im Zielgebiet herrschenden Wetterverhältnisse und klimatischen Gegebenheiten“.

Übliche Witterung im Dezember

Die Beklagte sei auch nicht verpflichtet gewesen, die Klägerin vor Abschluss des Reisevertrags über die im Reisemonat Dezember in Ecuador üblicherweise zu erwartenden Witterungsbeeinträchtigungen aufzuklären und auf Regenzeiten hinzuweisen. Eine gesteigerte Informationspflicht eines Reiseveranstalters bestehe nur hinsichtlich der Umstände, bei denen der Reisende über ein Informationsdefizit verfügt. Vorliegend habe sich die Klägerin indes ohne Weiteres über das Internet über die klimatischen Besonderheiten am Urlaubsort informieren können. Das Internet biete dem Reisenden umfangreiche, aktuelle und unentgeltliche Informationen unabhängig vom typischerweise erst nach der Entscheidung für ein Zielgebiet erfolgten Erwerb eines Reiseführers. Bereits bei einer einfachen Recherche im Internet sei ersichtlich, dass der Monat Dezember sowohl im Andenhochland als auch im Amazonasgebiet als regenreich gelte und damit Sichtbeeinträchtigungen aufgrund von Regen und Nebel allgemein zu erwarten gewesen seien. Hier habe sich damit ein allgemeines Umwelt- bzw. Umfeldrisiko verwirklicht.

Auch hoher Preis rechtfertigt keine besondere Beratungspflicht

Der Umstand, dass es sich um eine recht hochpreisige Reise gehandelt habe, führe nicht zu einer besonderen Beratungspflicht. Maßgeblich für den Reisepreis sei vielmehr die Ausgestaltung als exklusive Privatreise mit Gabelflug gewesen.

Soweit den Reiseveranstalter eine Hinweispflicht treffen könne, wenn sich für die Reisezeit eine atypische, unvorhergesehene Wetterlage abzeichne, mache die Klägerin diese Voraussetzungen hier nicht geltend.

Die Reisebeschreibung enthalte schließlich auch keinerlei Aussagen zur Umgebung, Landschaft oder Tierwelt, die die Klägerin witterungsbedingt nicht wahrzunehmen vermocht habe.

Die Entscheidung ist nicht anfechtbar.

Quelle: OLG Frankfurt am Main, Hinweisbeschluss vom 13.6.2023 sowie Beschluss vom 28.8.2023, 16 U 54/23, PM 55/23

Grundsicherung: Sozialwohnung: Jobcenter muss Mietkosten anerkennen

Das Landessozialgericht (LSG) Berlin-Brandenburg hat entschieden: Bei der Beurteilung der Frage, in welcher Höhe Mietkosten von den Jobcentern zu übernehmen sind, muss ein Vergleich mit den Mieten für Sozialwohnungen erfolgen. Mietpreise, die für nach dem Recht des sozialen Wohnungsbaus geförderte Wohnungen gezahlt werden, könnten nicht als unangemessen angesehen werden.

Damit hat es der gegen das zuständige Berliner Jobcenter gerichteten Klage einer Empfängerin von Grundsicherungsleistungen („Hartz IV“, jetzt Bürgergeld) insoweit stattgegeben.

Das war geschehen

Es ging um Zeiträume in den Jahren 2015/2016. Die allein lebende Frau verlangte die Übernahme der vollen Kosten für Miete und Heizung in Höhe von damals rund 640 Euro für ihre 90 m² große Dreizimmerwohnung. Die Suche nach einer günstigeren Wohnung im angespannten Berliner Wohnungsmarkt sei aussichtslos gewesen.

Das Jobcenter hatte insgesamt nur rund 480 Euro für angemessenen gehalten. Dabei bezog es sich auf die Ausführungsvorschriften der zuständigen Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales, die die Grenze der Angemessenheit aus den durchschnittlichen Mietkosten ableitet, wie sie der Mietspiegel für Berlin für einfache Wohnlagen ausweist.

Jobcenter in die Schranken gewiesen

Das LSG hält dieses Vorgehen für unzulässig. Die so berücksichtigten Wohnungen erfassten nur den durchschnittlichen Fall der Angemessenheit, nicht aber deren „obere Grenze“. Zwar könnten Empfänger von Leistungen der Jobcenter auf solche Wohnungen verwiesen werden, die lediglich einfache Bedürfnisse für eine sichere Unterkunft befriedigen. Wohnungen zum noch als angemessen angesehenen Mietpreis müssten jedoch auch tatsächlich für Leistungsberechtigte zur Verfügung stehen.

Berliner Wohnungsmangel

Dies sei hier nicht der Fall und ergebe sich auch aus einer statistischen Auswertung des Wohnraumbedarfsberichts der Senatsverwaltung aus dem Jahr 2019. Demnach habe es in Berlin 76.000 Haushalte (darunter 33.000 Einpersonenhaushalte) gegeben, die Leistungen der Grundsicherung bezogen hätten, deren Mietkosten jedoch über den von den Jobcentern herangezogenen Grenzwerten gelegen hätten. Zugleich weise der genannte Bericht eine massive Angebotslücke von 345.000 Wohnungen allein im Bereich der Wohnungen für Einpersonenhaushalte aus.

Auch Sozialwohnungen unangemessen teuer

In einer solchen Situation könne das Gericht keinen Grenzwert bestimmen. Im vorliegenden Fall lasse sich bei einem Vergleich mit den Mieten für Sozialwohnungen, die gerade für Grundsicherungsempfänger als angemessener Wohnraum bereitgestellt werden sollen, feststellen, dass die Wohnung der Frau noch angemessen gewesen sei. Die nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (BSG) ggf. als Höchstgrenze heranzuziehenden Werte (110 Prozent der Tabelle nach § 12 Wohngeldgesetz) seien für Berliner Verhältnisse ungeeignet, weil danach selbst viele Sozialwohnungen als unangemessen teuer angesehen werden müssten.

Quelle: LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 30.3.2023, L 32 AS 1888/17, PM vom 4.4.2023

Unfallkasse: Elternbeirat bei Sägearbeiten für Weihnachtsbasar unfallversichert

Ein ehrenamtliches Mitglied des Elternbeirats einer kommunalen Kindertagesstätte ist beim Zuschneiden von Baumscheiben für den Weihnachtsbasar der Einrichtung unfallversichert, auch wenn die Sägearbeiten auf seinem Privatgrundstück stattfinden. Dies hat das Bundessozialgericht (BSG) entschieden.

Bei Elternarbeit im eigenen Privatgarten verletzt

Der Kläger war Mitglied des Elternbeirats einer kommunalen Kindertagesstätte. Im Jahr 2017 sollte der Kläger für den jährlichen Weihnachtsmarkt der Kindertagesstätte Baumscheiben zurechtschneiden, um diese auf dem Basar des Weihnachtsmarktes zu verkaufen. Dabei schnitt der Kläger auf seinem Privatgrundstück die Baumscheiben zu. Seine linke Hand geriet in die Kreissäge, woraufhin er Mittel- und Ringfinger verlor.

Bundessozialgericht: Arbeitsunfall

Anders als die beklagte Unfallkasse und die Vorinstanzen hat das BSG das Ereignis als Arbeitsunfall anerkannt. Der Kläger war im Unfallzeitpunkt als Mitglied des Elternbeirats innerhalb der gesetzlichen Aufgabenkreise der Gemeinde als Trägerin der Kindertagesstätte und des Elternbeirats ehrenamtlich tätig. Kindertagesstätte und Elternbeirat hatten ihm zudem die unfallbringenden Sägearbeiten konkret übertragen.

Fehlende Einwirkungsmöglichkeiten auf dem Privatgrundstück des Klägers sind insoweit ohne Belang. Der Versicherungsschutz erstreckt sich ohne zeitliche oder räumliche Begrenzung auf ehrenamtliche Tätigkeiten „für“ die Einrichtung.

Quelle: BSG, Urteil vom 5.12.2023, B 2 U 10/21 R, PM 40/23